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„Wir können es uns nicht leisten, nichts zu tun!“

Kinder- und Jugendärzte fordern neue Konzepte für den Schutz vor Adipositas

Berlin, 18.9.2018. – Übergewichtige Kinder und Jugendliche gehören zu unserem Alltag. Zwar ist die Gesamtzahl der Kinder mit ernsten Gewichtsproblemen in den letzten Jahren in etwa gleich geblieben, aber die soziale Ungleichheit für das Auftreten von krankhaftem Übergewicht (Adipositas) hat im letzten Jahrzehnt sehr stark zugenommen: Die nationale Kinder- und Jugendgesundheitsuntersuchung (KIGGS) nennt bei Kindern aus sozioökonomisch benachteiligten Familien eine 4,1fach höhere Adipositas-Häufigkeit für Jungen, für Mädchen ist das Risiko hier sogar 4,4fach höher als in Familien mit hohem Bildungsgrad und Einkommen. Vor einem Jahrzehnt noch betrug dieser Unterschied „nur“ das 3fache.

Bestandaufnahme: Ungleiche Chancen von Anfang an
Ein zentraler Risikofaktor ist – das zeigt der kürzlich von der DAK vorgelegte Kinder- und Jugendreport – der Bildungsstatus der Eltern. Ein fehlender Bildungsabschluss der Eltern erhöht das Adipositas-Risiko ihres Kindes erheblich. Adipositas bei Kindern und Jugendlichen führt zu stark erhöhten lebenslangen Krankheitsrisiken, z. B. für Zuckerkrankheit, Herzinfarkt, Schlaganfall und einige Krebsarten, und zu einer deutlich kürzeren Lebenserwartung.

Bildungsniveau, berufliche Stellung sowie das Haushaltseinkommen entscheiden also wesentlich über die Gesundheit eines Kindes.

„Die dramatische Zunahme der deutlich schlechteren Gesundheits- und Lebenschancen für Kinder aus Familien mit niedrigem Einkommens- oder Bildungsstand ist nicht akzeptabel. Wir dürfen diese Kinder keinesfalls zurücklassen, sondern müssen stärkere Anstrengungen unternehmen, um allen Kindern einen guten Start in ihre Zukunft zu ermöglichen“, sagte Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) und der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) am 18. September 2018 in Berlin.

Politik muss gesundheitsfördernden Lebensstil stützen und fördern!
Angesichts der stagnierend hohen Zahlen an Adipositaserkrankungen schon der Jüngsten erheben die drei medizinischen Verbände Forderungen an die Politik, endlich effiziente Maßnahmen zur Risikoreduktion einzusetzen.

Es geht den Ärzten auch um eine Bestandaufnahme der zahlreichen Kampagnen und Initiativen der letzten Jahre, die mit Blick auf die betroffenen Kinder eines gemeinsam haben: „Die in Deutschland bisher favorisierte Strategie der Stärkung von Familien, z. B mit gut gemachten Broschüren und vielfältigen Informationsangeboten, hat häufig die ohnehin interessierte Familien aus der
Mittelschicht erreicht, aber keinen ausreichenden Schutz der Kinder aus Risikogruppen erzielt. Und mit Projektarbeit allein ist das Problem nicht lösbar“, fasst Prof. Dr. Ingeborg Krägeloh-Mann, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), die Bemühungen um Prävention von Adipositas im Kindesalter zusammen.

Da der hinsichtlich der eintretenden Effekte größte Risikofaktor für kindliches Übergewicht eine ungesunde Ernährung ist, sollte hier zuerst angesetzt werden: „Von der Politik gesetzte Regeln sollten beim Essen die gesündere Wahl zur leichteren Wahl machen, womit das Adipositasrisiko deutlich gesenkt werden kann. Bei der Einführung von verhältnispräventivenMaßnahmen zur Stärkung eines gesundheitsfördernden Lebensstils liegt Deutschland im internationalen Vergleich leider noch in der Schlussgruppe.“

Forderung: Mindeststandards für das Mittagessen in KiTa und Schule
Die drei Organisationen fordern, in allen Bildungseinrichtungen von der Kinderkrippe bis zur Sekundarschule, Mindeststandards für eine gesunde Gemeinschaftsverpflegung verpflichtend einzuführen. Ein gesundes Essen in KiTa und Schule hat nicht nur unmittelbar einen großen Nutzen für die kindliche Gesundheit und Leistungsfähigkeit, sondern prägt langfristig ein gesünderes Essverhalten.

„Auch in Deutschland muss die Abgabe von zuckerhaltigen Getränken in KiTa und Schule strikt unterbunden werden, so wie es z. B. in Belgien und Frankreich seit langem selbstverständlich ist“, sagt Priv. Doz. Dr. Susanna Wiegand als Vertreterin der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Viele wissenschaftliche Studien belegten, dass regelmäßiger Verzehr von zuckerhaltigen Getränken ein starker eigener Risikofaktor für Übergewicht und Adipositas sei: „Kinder sollen lernen, Wasser zu trinken, um ihre Gesundheit zu schützen.“

Forderungen: Einfache Kennzeichnung von Lebensmitteln
Familien möchten ihre Kinder gesund ernähren, aber es ist für sie schwer, die besseren Produkte zu erkennen und auszuwählen. „Dringend notwendig ist eine Kennzeichnung gesünderer Lebensmittel auf der Packungsvorderseite, wie es Frankreich mit dem Nutriscore eingeführt hat“, fordert Prof. Dr. Berthold Koletzko, Vorsitzender der DGKJ-Ernährungskommission. Mit dem Nutriscore werden Lebensmittel vor allem aufgrund des Gehaltes an Zucker, gesättigtem Fett und Salz mit einem Buchstaben- und Farbcode gekennzeichnet, ganz ähnlich der in Europa seit langem etablierten Kennzeichnung des Energieverbrauches bei Elektrogeräten.

Dr. Fischbach nennt eine weitere Informationsquelle für die Produktauswahl:
„Bis zur allgemeinen Einführung des Nutriscore auch in Deutschland raten wir Familien, eine App wie z.B.`Open Food Facts‘ auf ihr Handy zu laden und damit im Supermarkt den Barcode der Produkte zu scannen – sie erhalten dann sofort den Nutriscore für das Produkt und können damit ganz einfach die gesünderen Produkte für ihre Kinder und die ganze Familie auswählen.“

Forderung: Werbekontrolle für Zielgruppe „Kind“
Die drei Organisationen fordern eine konsequente Beschränkung der an Kinder gerichteten Lebensmittelwerbung. „Die wissenschaftliche Datenlage ist ein deutig: Kinder, die der Lebensmittelwerbung ausgesetzt sind, verzehren mehr ungesunde Speisen und Getränke, und sie sind häufiger von Übergewicht, Adipositas und den damit verbundenen Krankheiten betroffen“, betont Dr. Wiegand, DAG.

Forderung: Zuckersteuer
Auch eine Besteuerung zuckerhaltiger Getränke, wie sie in Großbritannien, Mexiko und vielen anderen Ländern schon existiert, kann die gesündere Getränkeauswahl erleichtern.

Prof. Dr. Koletzko: „Wir hoffen sehr auf die Bereitschaft der Politik zu konsequenten Maßnahmen, denn die Lasten des heute bestehenden kindlichen Übergewichts für Krankheitsfolgen und eingeschränkte Lebenschancen sind enorm hoch. Allein die Gesundheitskosten für die heute in Deutschland übergewichtigen Kinder und Jugendlichen belaufen sich auf 1,8 Milliarden Euro. – Wir können es uns nicht leisten, nichts zu tun!“

Für den Schutz der Kinder – nicht der Lebensmittelwirtschaft
Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und die Deutsche Adipositasgesellschaft haben sich gemeinsam entschieden, ihre Mitgliedschaft in der vor gut einem Jahrzehnt gegründeten „Plattform Ernährung und Bewegung (PEB)“ zu beenden. „Als Gründungsmitglied hatten wir beim Start der PEB große Hoffnungen, dass eine gemeinsame Plattform aller Akteure der Zivilgesellschaft eine gemeinsame und offene Diskussion auch über kontroverse Fragen sowie über aktive Beiträge aller Mitglieder zur Senkung des Übergewichts bei Kindern ermöglicht. Beide Ziele wurden leider nicht erreicht! Die überwiegende Mehrzahl der PEB-Mitglieder kommt aus der Lebensmittelwirtschaft und blockiert die dringend notwendige Diskussion über zielführende Maßnahmen zum Schutz der Kindern vor zu viel ungesunden Lebensmitteln“, sagt Prof. Ingeborg Krägeloh-Mann, die Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin.