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Patienten mit Dystonie und Spastik können gegen Botulinumtoxin immun werden

Aktuelle Studie in der Fachzeitschrift „Neurology“

Neurologisch verursachte Bewegungsstörungen mit muskulärer Überaktivität bei Dystonien und Spastiken werden häufig zur Linderung quälender Symptome mit Botulinumtoxin behandelt. Eine aktuelle Studie zeigt nun, dass etwa 15 Prozent der Patienten, die mit Botulinumtoxin Typ A behandelt wurden, eine Immunreaktion auf genau diese Behandlung entwickeln.

Das Risiko der Antikörperentwicklung steigt mit Dauer und Intensität der Behandlung. Dadurch kann die Therapie mitunter erheblich an Wirkung verlieren. Die Studie gilt als bisher umfangreichste zu diesem Thema im Hinblick auf die Teilnehmerzahl und wurde in der Fachzeitschrift Neurology, dem Journal der American Academy of Neurology, veröffentlicht.

Studienautor PD Dr. Philipp Albrecht, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, kommentiert die Studienergebnisse an knapp 600 Patientinnen und Patienten: „Das Risiko der Immunisierung lässt sich möglicherweise verringern, indem man die verwendete Dosis so niedrig wie möglich ansetzt und besonders Hochdosisinjektionen vermeidet. Außerdem scheint die Verwendung von komplexprotein-freiem Incobotulinumtoxin mit einem geringeren Risiko für Antikörper vergesellschaftet zu sein.“

Die Studie schloss 596 Probandinnen und Probanden ein, die drei bis fünf Jahre mit Botulinumtoxin gegen Nacken-Dystonie (Zervikale Dystonie), Lidkrämpfe (Blepharospasmus), krampfhafte unwillkürliche Muskelbewegungen (Tics) in einer Gesichtshälfte (faziale Hemispastik) und anderen Typen von Bewegungsstörungen behandelt worden waren. Die Teilnehmer der Studie sprachen alle noch auf die Therapie an. Insgesamt entwickelten 14 Prozent der Studienteilnehmer neutralisierende Antikörper gegen das Botulinumtoxin, die die Wirkung des Medikaments vermindern können.

64 der 408 Studienteilnehmer mit Zervikaler Dystonie bzw. 16 Prozent entwickelten Antikörper. Von den 54 Probanden mit Blepharospasmus waren es drei Personen (sechs Prozent). 52 der Studienteilnehmer mit anderen Dystonien, eingeschlossen war auch das Meige Syndrom, das Unterkiefer, Zunge und Augen betrifft, waren bei neun Personen (17 Prozent) Antikörper nachweisbar. Von 33 Personen mit Spastik hatten fünf (15 Prozent) nachweisbare Antikörper. Keine der Probandinnen und Probanden mit fazialer Hemispastik entwickelte Antikörper.

Die Autoren untersuchten den Einfluss der Behandlungsdauer. Ergebnis war, dass die Entwicklung von Antikörpern mit längerer Therapiedauer anstieg. Auf die beschriebenen Erkrankungen bezogen lag das Risiko, Antikörper zu entwickeln, bei Personen mit Zervikaler Dystonie, Spastik und anderen Dystonien nach rund 15 Jahren Therapie bei 30 bis 40 Prozent, bei Personen bei Blepharospastik bei rund 15 Prozent. Hauptrisikofaktor war die Höhe der Einzeldosis, so die Autoren der Studie. Bei Patienten, die insgesamt über 700 Standardeinheiten bekamen, stieg die Wahrscheinlichkeit für Antikörperbildung.

Auch die Zusammensetzung des Medikaments spielte eine Rolle. Die meisten Studienteilnehmer, es waren 324, erhielten Abobotulinumtoxin A; 68 bekamen Onabotulinumtoxin A und 46 Incobotulinumtoxin A. Zusätzlich wurden 158 Personen mit mehr als einem dieser Medikamente behandelt. Sechs Prozent der Patienten mit Abobotulinumtoxin A entwickelten Antikörper und sieben Prozent der Patienten, die nur Onabotulinumtoxin A bekamen. Kein Patient, der mit Incobotulinumtoxin A behandelt wurde, entwickelte Antikörper. Allerdings, so Studienleiter Dr. Philipp Albrecht, war die Behandlungsdauer bei dieser Gruppe auch kürzer als für die anderen Gruppen. Hier seien weitere Studien von Nöten, so Albrecht, die längere Zeitperioden untersuchen und Personen, die mit Onabotulinumtoxin gegen Migräne oder Hyperhidrose, übermäßiges Schwitzen, behandelt wurden.

Eine Einschränkung der Studienegebnisse liegt darin, dass Therapieabbrüche von Patienten aufgrund der individuellen Wirkungslosigkeit des Botulinumtoxin erfolgt waren, die dann nicht in die Studie eingeschlossen werden konnten. Daher ist es möglich, dass die Raten der Antikörperbildung in Wirklichkeit sogar noch höher liegen.

Die Botulinumtoxinambulanz der Klinik für Neurologie (Direktor Prof. Dr. Hans-Peter Hartung) des UKD unter Leitung von Dr. Philipp Albrecht ist eine der größten ihrer Art in Deutschland.

Die kommerziell durchgeführte Bestimmung von neutralisierenden Antikörpern wurde extern durchgeführt und von der Firma Merz Pharmaceuticals gefördert.

Originalpublikation: High prevalence of neutralizing antibodies after long-term botulinum neurotoxin therapy. Albrecht P, Jansen A, Lee JI, Moll M, Ringelstein M, Rosenthal D, Bigalke H, Aktas O, Hartung HP, Hefter H., Neurology. 2019 Jan 1;92(1):e48-e54. doi: 10.1212/WNL.0000000000006688. Epub 2018 Nov 21.