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Trotz Hygienemaßnahmen das Mikrobiom schützen

Internationales Forschungsteam unter Beteiligung von CAU-Professor Thomas Bosch befürchtet, dass im Zuge der Corona-Pandemie Mikrobiom-assoziierte Umwelterkrankungen weiter zunehmen könnten

Die Corona-Pandemie als weltumspannende Gesundheitskrise führt zu Infektions- und Opferzahlen, die seit mehr als 100 Jahren nicht erreicht wurden. In bisher nie dagewesener Weise hat sie das globale menschliche Zusammenleben und Wirtschaften unterbrochen. Ihre vollständige Dimension, ihre Dauer und der Ausgang sind heute noch völlig offen. Die internationale Wissenschaftsgemeinschaft hat sich in den vergangenen Monaten stark auf die Erforschung des neuartigen Erregers fokussiert und in beispielloser Geschwindigkeit erfolgversprechende Ansätze zur Bekämpfung des Virus entwickelt. Eine Gruppe hochangesehener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des „Humans & the Microbiome“-Forschungsprogramms des Canadian Institute for Advanced Research (CIFAR) unter Beteiligung von Professor Thomas Bosch von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) erweitert nun die wissenschaftliche Perspektive um eine Prognose der längerfristigen indirekten Folgen jenseits der SARS-CoV-2-Infektionen. Die internationalen Forschenden sagen in einer Perspektivarbeit noch weitreichendere gesundheitliche Konsequenzen voraus: Sie befürchten eine starke Zunahme sogenannter Umwelterkrankungen wie Diabetes, Adipositas oder chronische Entzündungen. Diese und viele andere Krankheiten beruhen auf einem Verlust an mikrobieller Vielfalt im menschlichen Körper.

Seit Jahrzehnten schreitet die Verarmung des Mikrobioms, also der Gesamtheit der Mikroorganismen in und auf einem Körper, im Zuge eines modernen, globalisierten Lebensstils voran. Dieser Verlust an Mikroorganismen werde durch die zur Eindämmung des Infektionsgeschehens notwendigen verstärkten Hygiene- und Isolationsmaßnahmen kritisch beschleunigt, schreiben die Forschenden. Ein gestörtes Mikrobiom steht gleichzeitig neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge möglicherweise in Zusammenhang mit schweren oder gar tödlichen COVID-19 Verläufen. Dennoch befürwortet die CIFAR-Forschungsgruppe ausdrücklich die zur Pandemiebekämpfung eingeführten Hygiene- und Isolationsmaßnahmen als derzeit unverzichtbar. Zusätzlich spricht sie sich aber für eine Balance von Infektionsschutz und langfristigen Gesundheitsrisiken aus: Die Forschenden empfehlen, in der Pandemiebekämpfung auch ein gesundes Mikrobiom zu berücksichtigen und den Kontakt mit gesundheitsförderlichen Mikroorganismen so weit wie möglich zuzulassen. Dieser Aspekt sei für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Erholung nach der Pandemie und die öffentliche Gesundheit langfristig von großer Bedeutung. Die internationalen Forschenden veröffentlichten ihre Arbeit kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS).

Wie sich Mikrobiom und Coronavirus gegenseitig beeinflussenNoch sind das neuartige SARS-CoV-2 und die von ihm verursachte COVID-19-Erkrankung nicht genau genug erforscht, um Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und dem Verlauf und der Schwere der Erkrankung ursächlich nachweisen zu können. Allerdings deuten aktuelle Studien darauf hin, dass die Mikrobiom-Zusammensetzung möglicherweise beeinflusst, wie anfällig der Organismus gegenüber einer SARS-CoV-2-Infektion ist. „Es fällt dabei auf, dass Personen, die an einem schweren COVID-19-Verlauf leiden, häufig bereits bestehende Erkrankungen haben, die mit einer Störung des Darmmikrobioms zusammenhängen“, betont CIFAR-Fellow Bosch, Leiter des Sonderforschungsbereichs (SFB) 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ an der Kieler Universität. „Jüngste Studien an COVID-19-Erkrankten weisen auf ein schweres Ungleichgewicht des Darmmikrobioms hin, das durch die Anreicherung charakteristischer Bakterienarten und Pilzpathogene und den Verlust gesundheitsfördernder Mikroben gekennzeichnet ist“, so Bosch weiter.

Einerseits hängt das Risiko, schwer an COVID-19 zu erkranken, also möglicherweise eng mit bereits bestehenden Krankheiten zusammen, die mit einer Störung der Zusammensetzung und Vielfalt des Mikrobioms korreliert sind. Andererseits beeinflussen die zur Bekämpfung der Pandemie eingeführten Maßnahmen umgekehrt auch das menschliche Mikrobiom. Vor allem die zurzeit alternativlose drastische Verringerung sozialer Interaktionen im Zuge von Isolation, physischer Distanzierung und die weitreichende Einschränkung der Mobilität gemeinsam mit intensiver Hygiene wirken sich offenbar deutlich auf seine Zusammensetzung aus – nämlich indem sie die Übertragung von Mikroorganismen von Mensch zu Mensch unterbrechen. Diese Weitergabe findet unter normalen Umständen auf vielfältige Weise statt, etwa über Berührungen oder die gemeinsame Nutzung von Gegenständen oder auch Räumlichkeiten.

Infektionen verhindern und das Mikrobiom schützen

Wie sich die einzelnen Hygiene- und Isolationsmaßnahmen auf das Mikrobiom auswirken, muss durch die Forschung noch im Detail geklärt werden. Klar ist jedoch bereits jetzt, dass es einen Zielkonflikt zwischen dem Infektionsschutz und der Vermeidung von Umwelterkrankungen gibt. „Um es ganz deutlich zu sagen: Es muss das derzeit oberste Ziel sein, die Ausbreitung von SARS-CoV-2 zu bremsen und möglichst weitgehend zu verhindern – und dazu sind Hygienemaßnahmen und Kontaktbeschränkungen unausweichlich“, betont Bosch. „Allerdings haben wir in den letzten Jahren – auch durch die Arbeiten im Kieler Sonderforschungsbereich 1182 – gelernt, wie wichtig ein vielfältiges Darmmikrobiom für die Aufrechterhaltung der Gesundheit ist und wie sehr unser moderner Lebensstil diese Vielfalt bedroht. Der in der Pandemie nun erforderliche Infektionsschutz überschneidet sich daher aktuell dramatisch mit dem seit Jahrzehnten voranschreitenden Verlust an mikrobieller Vielfalt. Diesem Trend gilt es auch in Zeiten der Pandemie entgegenzuwirken, um so einen drastischen Zuwachs an Umwelterkrankungen in naher Zukunft zu verhindern”, so Bosch weiter.

Um dieser Herausforderung zu begegnen, sei es wichtig, im Rahmen des Möglichen weiterhin den Kontakt zu gesundheitsfördernden Mikroorganismen zu erlauben, so das internationale Forschungsteam. Dazu empfiehlt es Maßnahmen, die auch unter normalen Umständen für den Erhalt eines gesunden Mikrobioms sinnvoll sind. Dazu zählen der regelmäßige Aufenthalt im Freien in naturnahen Umgebungen, die Förderung einer gesunden, Mikrobiom-freundlichen Ernährung, und die Vermeidung von unnötiger Antibiotika-Einnahme. Diese und weitere Ansätze erlauben es möglicherweise, auch unter den Bedingungen des Infektionsschutzes die Bewahrung und Weitergabe gesundheitsfördernder Mikroorganismen zu gewährleisten.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen in der aktuellen Situation auch die bedeutende Chance, die Wechselwirkungen eines hochansteckenden Krankheitserregers mit dem Mikrobiom und seiner Wirkung als zentraler Regulator der Gesundheit zu studieren. Die aktuell entstehenden Erkenntnisse werden künftig dabei helfen, den Verlauf der Corona-Krise zu mildern und sie insgesamt schneller zu beenden. Auch künftige, möglicherweise noch schwerwiegendere Pandemien könnten mit dem daraus abgeleiteten Wissen und darauf beruhenden Maßnahmen besser kontrolliert oder gar verhindert werden, hoffen die CIFAR-Forschenden.

Über das Canadian Institute for Advanced Research (CIFAR):
Aufgabe des CIFAR ist seit seiner Gründung 1982, interdisziplinäre Forschungsteams unter Beteiligung führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt zu schaffen, die sich wissenschaftlichen Themen mit besonderer gesellschaftlicher Relevanz widmen. Zurzeit bearbeiten über 400 Forschende aus rund 130 Institutionen weltweit 13 fachübergreifende Forschungsprojekte mit zum Beispiel lebenswissenschaftlichen, sozialen oder technischen Fragestellungen. Dafür steht den CIFAR-Forschungsteams ein jährliches Gesamtbudget von umgerechnet rund 28 Millionen Euro zur Verfügung. In seinem Forschungsprogramm „Der Mensch und das Mikrobiom“ bringt das CIFAR Expertinnen und Experten aus der Anthropologie, Biologie und anderen Disziplinen zusammen, um die Interaktionen von Wirtsorganismen und der Mikrobiota in ihrer gesamten Bandbreite zu erforschen. Sie stellen neue Fragen zur Rolle individueller und kultureller Aspekte für das Verständnis des Mikrobioms im Zusammenhang mit der menschlichen Gesundheit und Entwicklung.

Über den SFB 1182:
Der Sonderforschungsbereich „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“ ist ein interdisziplinäres Netzwerk unter Beteiligung von rund 80 Forschenden, das die Interaktionen spezifischer Mikrobengemeinschaften mit vielzelligen Wirtslebewesen untersucht. Es wird von der Deutschen Forschungsgmeinschaft (DFG) unterstützt und beschäftigt sich mit der Frage, wie Pflanzen und Tiere einschließlich des Menschen gemeinsam mit hoch spezifischen Gemeinschaften von Mikroben funktionale Einheiten (Metaorganismen) bilden. Ziel des SFB 1182 ist es, zu verstehen, warum und wie mikrobielle Gemeinschaften diese langfristigen Verbindungen mit ihren Wirtsorganismen eingehen und welche funktionellen Konsequenzen diese Wechselwirkungen haben. Im SFB 1182 sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus fünf Fakultäten der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), vom GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, dem Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie Plön, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und der Mathematik und der Muthesius Kunsthochschule zusammengeschlossen.

Originalarbeit:

B. Brett Finlay, Katherine R. Amato, Meghan Azad, Martin J. Blaser, Thomas C.G. Bosch, Huitung Chu, Maria Gloria Dominguez-Bello, Stanislav Dusko Ehrlich , Eran Elinav Naama Geva-Zatorsky, Philippe Gros, Karen Guillemin, Frédéric Keck, Tal Korem, Margaret J. McFall-Ngai, Melissa K. Melby, Mark Nichter, Sven Pettersson, Hendrik Poinar, Tobias Rees, Carolina Tropini, Liping Zhao, Tamara Giles-Vernick (2021): The hygiene hypothesis during a pandemic: consequences for the human microbiome. PNAS
First Published on 20. January 2021 DOI: 10.1073/pnas.2010217118

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