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Jede Geste zählt – Forschung zu Kommunikation in der Telemedizin an der Universität Bayreuth

Die Einschränkungen während der Corona-Pandemie haben die Bedeutung von Videokonferenzen und Telekommunikation auch auf dem medizinischen Sektor deutlich gemacht. Welche Besonderheiten für die Arzt-Patienten-Kommunikation bei der Telemedizin beachtet werden müssen, weiß Prof. Dr. Karin Birkner. Sie hat den Lehrstuhl für Germanistische Linguistik an der Universität Bayreuth inne und forscht zu sprachlicher Interaktion und medizinischer Kommunikation. Birkner arbeitet seit 2015 zu Telemedizin, u.a. mit dem Schlaganfallnetzwerk Südostbayern „Tempis“.

Was genau ist „Medizinische Gesprächsforschung“?

Gesprächsforschung ist eine Methode zur empirischen Untersuchung von sprachlicher Interaktion. „Gespräch“ steht dabei für verschiedene Formen der authentischen Kommunikation zwischen Menschen; dabei kommt vom Unterricht über Kaffeeklatsch, Telefonnotruf bis hin zur medizinischen Kommunikation alles in den Blick, was mit Sprache und weiteren Mitteln der Verständigung zu tun hat: Blick, Mimik, Gestik etc. Dazu gehört auch die Frage, wie sich die Distanz in der telemedizinischen Behandlung auswirkt.

Warum ist das Gespräch wichtig, wenn es um ärztliche Behandlung geht?

Zahlreiche Studien belegen, dass die Qualität der Beziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen Auswirkungen auf den Behandlungserfolg hat, sowohl positiv als auch negativ. In den letzten Jahrzehnten wurde Gesprächsführung deshalb zunehmend in der medizinischen Ausbildung verankert. Das Gespräch, ob nun medial vermittelt oder face-to-face, gilt nach wie vor als zentrales ärztliches Instrument für die Diagnose und auch die Therapie; allerdings wird es in der Gebührenordnung für Ärzte eher stiefmütterlich entlohnt.

Überspitzt gesagt: Wenn ein Arzt ein Arzt die Patienten in der Praxis im Zehnminutentakt durchschleust und sie kaum anschaut oder ob er nur mit ihnen telefoniert – das verschlechtert den Behandlungserfolg?

Das ist sehr überspitzt, denn wie immer muss differenziert werden. Bei einem Arztbesuch gibt es sehr unterschiedliche „Anlässe“ für medizinische Kommunikation. Manches lässt sich gut auf die Distanz klären, für anderes ist sie hinderlich oder gänzlich ungeeignet. So ist die körperliche Untersuchung auf Präsenz angewiesen: Ärzt*innen riechen, fühlen, lösen Schmerzreize aus, kontrollieren die Bauchspannung, beobachten den Gang, den Händedruck, die Hauttemperatur. So gilt für die hausärztliche Versorgung im Akutfall: Medial vermittelte Kommunikation kann nicht der Regelfall der hausärztlichen Versorgung sein. In manchen Bereichen allerdings, z.B. bei der Überwachung chronischer Erkrankungen, in der Wundkontrolle etc., hat die Telemedizin unbestrittene Vorteile. Dabei ist das Video dem Telefonat in der Informationsfülle überlegen.

Welche kommunikativen Hürden gibt es hier?

Da unsere Forschung noch im Gange ist, können wir bisher nur so viel sagen: Man hat bereits sehr detailliert gezeigt, dass neben den verbalen Mitteln auch der Blick eine wesentliche Funktion für den reibungslosen Ablauf übernimmt. In der Videoübertragung ist er systematisch verändert, u.a. da die Kamera eine fixe Position hat oder man dem Blick z.B. nicht folgen kann, da nur einen Ausschnitt der Umgebung sichtbar ist, etc. Hinzu kommt das Timing.

Inwiefern?

Während wir zuhören, analysieren wir das bislang Gehörte bereits und planen synchron schon unsere nächste Äußerung, um dann möglichst passgenau zu übernehmen. Nur so ist es möglich, dass in einem Gespräch die Beiträge ohne Pausen, aber auch ohne Überlappungen, wie im Pingpong hin- und herwechseln. Kleinste Verzögerungen werden normalerweise als bedeutungsvoll interpretiert: Ist das Gegenüber nicht einverstanden, kündigt sich ein Widersprich an, gibt es ein Verständnisproblem? Die Verzögerungen in der Videoübertragung machen dieses Finetuning schwierig(er), weil man nie genau weiß, ob die Signalübertragung oder die Absicht des Sprechers die Verzögerung verursacht.

Wie genau funktioniert die Untersuchung auf Distanz?

Ein Beispiel: Wir beschäftigen uns mit den Gesprächen unter per Video beteiligten, d.h. abwesenden Fachärzt*innen und behandelnden Ärzt*innen sowie deren Patient*innen in einem sehr spezifischen Bereich, der Schlaganfalldiagnostik (vgl. www.tempis.de). Liegt ein Verdacht auf einen Schlaganfall vor, müssen Neurolog*innen sehr kurzfristig bei der gesicherten Ursachenbestimmung mitwirken; diese sind jedoch nicht in jedem Krankenhaus im ländlichen Raum 24 Stunden verfügbar! Deshalb werden am Tempis-Projekt beteiligte Neurolog*innen in München-Harlaching und Regensburg per Videokonferenz zugeschaltet. Um die neurologischen Tests durchzuführen, fungieren die behandelnden Ärzt*innen vor Ort während der Untersuchung als „verlängerter Arm“. Sie führen beispielsweise den Finger vor dem Gesicht der Patient/innen hin und her, und zwar so, dass die Neurolog*innen die Augenbewegungen im Video gut sehen und fachlich beurteilen können.

Es geht hier also um eine Verschränkung von Tele-Medizin und Vor-Ort-Medizin?

Ja. Nur ein Teil der Behandlung, nämlich die neurologische Untersuchung, wird per Video gemacht, adäquate Assistent*innen müssen anwesend sein. Diese Assistenzfunktion muss – wenn man an andere Fälle denkt, z.B. die Schwindeldiagnostik, die Tempis ebenfalls anbietet – nicht immer ein Arzt oder eine Ärztin übernehmen, sondern kann – in Zeiten des Ärztemangels – auch eine entsprechend geschulte Krankenschwester oder ein Pfleger sein.

Wo kommen Sie ins Spiel?

Als Gesprächsforscherinnen untersuchen wir z.B., wie die Dreierkonstellation – zwischen Patient, Vorort-Arzt und per Video Zugeschalteter – von den Beteiligten erfolgreich bewerkstelligt wird. Zunächst stellen wir fest, was man in Corona-Zeiten selbst erleben konnte: Es gelingt erstaunlich schnell, sich an die Besonderheiten dieser Kommunikationsweise anzupassen. Welche Anpassungsleistungen hier vorgenommen werden, was sich dabei besonders eignet, wie sich Missverständnisse verhindern lassen und auch, welche Schulungsinhalte sich daraus gewinnen lassen, befindet sich gerade in der Erforschung.

Was müssen Ärzte für Telemedizin neu lernen? 

Als ich den Leiter von Tempis, Dr. Gordian Huber, danach fragte, fiel ihm als erstes die Handhabung der Technik ein. Aber auch das hat man in Corona-Zeiten gelernt: Mit zunehmender Erfahrung wird es immer einfacher, das geht recht schnell! Interessant ist aber das zweite Feld, das er nannte, nämlich die Frage: Wie instruiert man die Assistent*innen vor Ort am besten, wenn es darum geht, genau das auszuführen, was für die neurologische Untersuchung notwendig ist? Das ist z.B. ein Thema unserer Gesprächsforschung.

Kann man diese Erkenntnisse –  Nach- und Vorteile, Lösungsansätze der Video-Anamnese und Distanz-Betreuungsgespräche, auf andere Bereiche wie Personalführung, Teamwork oder Schule und Studium überführen?

Unbedingt! Allerdings nur in allgemeiner Weise; für detaillierte Aussagen bräuchte die Gesprächsforschung dann empirische Daten aus den jeweiligen Praxisfeldern.