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Gut gestützt und maximal beweglich

Kieler Forschungsteam entwickelt Gelenkschiene für Sport und Medizin nach dem Vorbild von Libellenflügeln

Rund 80% der Sportverletzungen sind sogenannte muskuloskelettale Schädigungen des Bewegungsapparats, zum Beispiel Verstauchungen, Zerrungen oder Überdehnungen. Bei Sportarten mit hohen Belastungen für die Handgelenke, wie Handball, Basketball oder Gewichtheben, kommt es besonders häufig zu solchen Verletzungen am Handgelenk. Herkömmliche Bandagen bieten oft entweder nicht genug Stabilität oder schränken die Bewegung zu stark ein. Ein Forschungsteam aus dem Zoologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) hat nun eine flexible Gelenkschiene entwickelt, die maximale Beweglichkeit und optimale Stabilität verbindet. Inspiration für die Konstruktion waren die hauchdünnen Flügel von Libellen, die während des Fluges großen äußeren Belastungen standhalten müssen. Die Studie erschien gestern (11. Februar 2021) in der Zeitschrift Applied PhysicsA. Jetzt wollen die Forschenden ihre Idee in die Anwendung bringen und haben ein Patent auf das Prinzip angemeldet.

Inspiriert von den einzigartigen Eigenschaften der Libellenflügel

Eigentlich erforschen die Wissenschaftler die faszinierenden Eigenschaften von Libellen: Um unterschiedlichen Windströmungen und Kollisionen mit festen Gegenständen standzuhalten, müssen ihre Flügel sowohl belastbar als auch beweglich sein. „In der Natur ist diese Kombination tatsächlich weit verbreitet, in der Technik können Stabilität und Beweglichkeit in der Regel nicht zusammen realisiert werden“, erklärt Ali Khaheshi, Erstautor der Studie. Der Ingenieur und Materialwissenschaftler steht vor dem Abschluss seiner Promotion bei Professor Stanislav Gorb und Dr. Hamed Rajabi in der Arbeitsgruppe „Funktionelle Morphologie und Biomechanik“. Gemeinsam haben sie untersucht, wie die Libelle es schafft, beide Eigenschaften zu kombinieren.

„Die Erkenntnisse aus der Biologie liefern uns spannende Ideen für technische Lösungen: Bei der Libelle liegt der Schlüssel in winzigen, gelenkartigen Verbindungen auf ihren Flügeln“, erklärt Gorb. Die Oberfläche der Flügel ist durchzogen von Strängen aus sogenanntem Resilin, einem elastischen Protein, die zunächst eine große Bewegungsfreiheit erlauben. Wird dabei jedoch ein gewisser Streckungswinkel überschritten, blockieren stachelförmige „Stopper“, die ebenfalls auf dem Flügel sitzen, eine weitere Bewegung. Stattdessen stützen die winzigen Stacheln nun die Flügel und verleihen ihnen die nötige Stabilität, um hohen Belastungen von außen standzuhalten.

„Als uns ein Teamkollege von seinen Handgelenkschmerzen beim Sport berichtete, wurden wir hellhörig und hatten den Eindruck, ein Konzept inspiriert von den Insektenflügeln könnte helfen“, sagt Rajabi. Um das Prinzip aus der Natur auf eine bewegliche und gleichzeitig stabile Handbandage zu übertragen, entwickelten sie eine Art Scharnier aus Polymilchsäure (PLA, Polylactic acid). Durch ihr spezielles Design kommt die Konstruktion aus dem leichten und dehnbaren Kunststoff auf gerade einmal 23 Gramm und lässt sie sich auf handelsübliche elastische Textilbandagen schnallen. Erst ab einem Winkel von 70 Grad – soweit werden Handgelenke beim Gewichtheben gebeugt – blockiert ein Stopper die Handbewegung und stabilisiert das Gelenk, ganz ähnlich zu den Stoppern auf den Libellenflügeln.

Auch Anwendungen in Medizin und Robotik denkbar

In einem speziellen Testaufbau untersuchte das Forschungsteam, wie ihre Gelenkschiene auf Belastungen reagiert und konnte zeigen, dass sie eine Krafteinwirkung von 320 Newton aushält. „Das heißt, damit lassen sich bis zu 32 Kilogramm stemmen, also mehr als das 1.400-fache ihres Eigengewichts. Wenn die Schiene aus härterem Material als PLA gefertigt wird, kann sie sogar Belastungen von bis zu 450 Kg standhalten – das ist mehr als der Weltrekord im Gewichtheben“, so Khaheshi.

Die Gelenkschiene lässt sich kostengünstig per 3D-Druck-Verfahren herstellen und jeweils für Hand-, Ellenbogen- oder Kniegelenke anpassen. Auch medizinische Anwendungen sind möglich, zum Beispiel, wenn Gelenke nach Verletzungen geschont werden sollen. Ein weiterer Vorteil des Konzepts ist seine Kontrollierbarkeit: „Anders als bei einer nichtlinearen mechanischen Feder, die beim Zusammendrücken erst allmählich steifer wird, können wir gezielt und ohne Verzögerung zwischen dem ‚Bewegungs-‘ und dem ‚Stabilitätsmodus‘ wechseln“ so Rajabi. Das macht auch Anwendungen in der Robotik denkbar.

Auf der Suche nach Industriepartnern

Jetzt sind die Forschenden auf der Suche nach Unternehmen, um ihre Gelenkschiene weiterzuentwickeln und auf den Markt zu bringen, zum Beispiel als integrierten Bestandteil von Textilbandagen. Ein Patent auf ihr Konzept haben sie bereits angemeldet. “Biologische Systeme sind weitaus komplexer als man auf den ersten Blick oft denkt. Dadurch besitzen sie einzigartige Eigenschaften, von denen wir ganz neue Ansätze für andere Bereiche lernen können“, fasst Khaheshi sein Interesse am Forschungsgebiet der Biomechanik zusammen.

Auf der Nanoebene herrschen andere, quantenphysikalische, Gesetze als in der makroskopischen Welt. Strukturen und Prozesse in diesen Dimensionen zu verstehen und die Erkenntnisse anwendungsnah umzusetzen, ist das Ziel des Forschungsschwerpunkts »Nanowissenschaften und Oberflächenforschung« (Kiel Nano, Surface and Interface Science – KiNSIS) der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). In einer intensiven interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Physik, Chemie, Ingenieurwissenschaften und Life Sciences könnten daraus neuartige Sensoren und Materialien, Quantencomputer, fortschrittliche medizinische Therapien und vieles mehr entstehen. www.kinsis.uni-kiel.de

Originalpublikation:
Khaheshi, A., Gorb, S.N. & Rajabi, H. Spiky-joint: a bioinspired solution to combine mobility and support. Appl. Phys. A127, 181 (2021). https://doi.org/10.1007/s00339-021-04310-5

<strong“>Patentinformation:
DE102020112003.6
(Tag der Anmeldung: 04.05.2020)