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„In Kanada wird der Impfstoff sogar auf Hundeschlitten ausgeliefert“

Kein anders Land hat mehr Corona-Impfstoff pro Kopf bestellt als Kanada. Warum die Impfungen dennoch schleppend vorangehen und wie das Land auf Falschmeldungen zu Corona reagiert, erklärt der kanadische Mediziner Thomas J. Marrie. Er ist zu Gast beim virtuellen Joint Academy Day, bei dem sich Vertreter/innen der Royal Society of Canada und der ÖAW über aktuelle globale Herausforderungen austauschen. Die Veranstaltung kann am 18. März ab 15 Uhr im Livestream verfolgt werden.

Anders als das Nachbarland USA breitet sich das Coronavirus in Kanada deutlich langsamer aus. Das Land galt in Sachen Viruseindämmung als Musterschüler – doch auch dort wächst jetzt die Sorge vor Mutationen. Und: Das Impfen gegen Covid-19 geht zu langsam voran. Es fehlt an Impfstoff. Dabei hatte Kanada weltweit die meisten Impfdosen pro Kopf bestellt. Vor welchen Herausforderungen das Land bei der Anschaffung und Verteilung der Vakzine steht, legt der kanadische Mediziner Thomas J. Marrie im Interview dar.

Als ein Vertreter der Royal Society of Canada spricht er beim diesjährigen „Joint Academy Day“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) am 18. März 2021. Der gemeinsame Tag, bei dem sich die ÖAW mit ihrem kanadischen Gegenüber austauscht, befasst sich mit einer Vielfalt an aktuellen gesellschaftliche Herausforderungen in mehreren Sessions, die ab 15 Uhr im Livestream verfolgt werden können. Eine dieser Herausforderungen ist die Coronakrise.

Für Marrie war einer der Lichtblicke im vergangenen Jahr die Kommunikation über evidenzbasierte Wissenschaft zu SARS-CoV-2. Federführend war dabei eine Arbeitsgruppe der Royal Society of Canada: „Über 400 Expert/innen sind damit beschäftigt, Empfehlungen an die Politik und Informationen für die Öffentlichkeit zu erstellen, damit wirklich jeder Zugang zu unabhängiger, evidenzbasierter Wissenschaft hat.“ Für Marrie steht fest: „Es obliegt uns allen, die Stimme gegen Fake News zu Covid-19 zu erheben.“

Kanada hat die meisten Impfdosen pro Kopf in der Welt bestellt, aber jetzt scheint das Land bei den Corona-Impfungen hinterherzuhinken. Warum?

Thomas J. Marrie: Wir haben viel bestellt, aber bisher sind nicht viele Impfdosen angekommen. Einer der Gründe: Wir sind in der Impfstoffproduktion auf andere Länder angewiesen und haben selbst nur sehr geringe Produktionskapazitäten. Und: Die Organisation, wie wir den Impfstoff im Land verteilen können, verlief schleppend. Es gibt bei uns keine 24-Stunden-Impfstellen, wie etwa in den USA, wo rund um die Uhr geimpft wird.

Ein weiterer Grund: Wir sind ein riesiges Land. Der Norden Kanadas ist sehr dünn besiedelt. Der Transport in entlegene Gebiete ist bei Impfstoffen, die eine außergewöhnliche Lagerung erfordern, äußerst schwierig. Der Impfstoff wird sogar auf Hundeschlitten ausgeliefert. Über Lieferketten haben wir gelernt, dass man sich gut überlegen muss, was man braucht, um sein Land im Falle einer Krise lebensfähig zu halten – sei es eine Pandemie oder eine andere Katastrophe, wie der Klimawandel, der wahrscheinlich unsere nächste große Herausforderung sein wird.

Wie besorgt sind Sie über die Mutationen, die bisher in Kanada aufgetaucht sind?

Marrie: Leider wissen wir noch nicht genug über die Ausbreitung der Mutationen. Wir sehen bereits einen Anstieg der Infektionszahlen im zentralen Teil Kanadas, besonders in Ontario. Diese Fälle sind alle auf neue Varianten zurückzuführen. Die Frage ist: Wie schützend wird der Impfstoff bei diesen Varianten wirken?

Die Corona-Kommunikation war auch für die Wissenschaft eine Herausforderung. Als Folge der Pandemie kommuniziert die Wissenschaft vermehrt mit der Politik, aber auch mit der Öffentlichkeit. Wie sehen Sie die Situation in Kanada?

Marrie: Kommunikation war und ist in Bezug auf Covid-19 auf mehreren Ebenen ein wichtiges Thema. Eine der Herausforderungen dabei: Die Menge an Fehlinformationen und Desinformationen, die kursieren. Daran haben sich Einzelpersonen und Organisationen, aber leider auch prominente Politiker beteiligt. Einer der Lichtblicke ist die Arbeitsgruppe der Royal Society of Canada zu SARS-CoV-2, darüber werde ich auch beim Joint Academy Day mit der ÖAW sprechen: Über 400 Expert/innen sind damit beschäftigt, Empfehlungen an die Politik und Informationen für die Öffentlichkeit zu erstellen, damit wirklich jeder Zugang zu unabhängiger, evidenzbasierter Wissenschaft hat. Ein Mitglied dieser Arbeitsgruppe hat zudem eine vielversprechende Initiative ins Leben gerufen, die Wissenschaftler/innen und Journalist/innen zusammenbringt, um Falschmeldungen zu bekämpfen. Denn: Es obliegt uns allen, die Stimme gegen Fake News zu Covid-19 zu erheben – und es gibt viele Gruppen und bestimmte Untergruppen, die wir dabei ansprechen müssen.

Landesweit sinken derzeit die Infektionszahlen wieder. Welche Lehren wurden aus der zweiten Welle gezogen?

Marrie: Kanada ist eine Föderation und das Gesundheitswesen fällt in die Zuständigkeit der Provinzen – das macht die Sache kompliziert. Welche Lehren gezogen wurden, hängt davon ab, wo man sich in unserem Land befindet. Ich lebe im Osten Kanadas in Nova Scotia direkt am Atlantik. Gemeinsam mit den Provinzen New Brunswick, Prince Edward Island, Neufundland und Labrador, ist das der am dünnsten besiedelte Teil Kanadas. Wir hatten bisher nicht viele Corona-Fälle, nur kleinere Ausbrüche. In Ontario und Quebec hingegen, den beiden bevölkerungsreichsten Provinzen, hatten wir die meisten Infektionen. Oder in Alberta, einer westlichen Provinz neben British Columbia, die einige sehr große Fleischbetriebe hat: Hier hat es mehrere Ausbrüche gegeben.

Wie würden Sie insgesamt das kanadische Corona-Management beurteilen?

Marrie: Insgesamt haben wir uns gut geschlagen. Aber: In einigen Bereichen, insbesondere in der Langzeitpflege, gab es große Probleme. Trotz der Herausforderungen, die unser föderales System mit sich bringt, haben die Zentralregierung und die Provinzregierungen gut zusammengearbeitet. Es war erstaunlich, wie sehr die Politiker/innen Verantwortung übernommen haben und auf den Rat der Public-Health-Expert/innen gehört haben.

Wenn Sie eine Corona-Botschaft an die Bevölkerung richten müssten, wie würde sie lauten?

Marrie: Ich werde diese Frage mit zwei Worten beantworten: Stay safe!

AUF EINEN BLICK

Thomas J. Marrie ist in Kanada als Spezialist für Infektionskrankheiten bekannt. 1999 wurde er Professor und Vorsitzender der Abteilung für Medizin an der Dalhousie University in Halifax, Nova Scotia. Er war u.a. Vorsitzender der Canadian Academy of Health Sciences, sowie Präsident der Canadian Association of Professors of Medicine, der Canadian Infectious Disease Society und der Canadian Academy of Health Sciences. Marrie ist Mitglied des Order of Canada und Fellow der Royal Society of Canada.

Veranstaltungstipp:

Was Akademien zur Bewältigung von aktuellen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen beitragen können, darum geht es traditionell beim jährlichen „Joint Academy Day“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Dieses Jahr ist die Royal Society of Canada zu Gast in Wien. Aufgrund der Coronapandemie findet das Zusammentreffen am 18. März virtuell als Webinar statt und wendet sich explizit auch an die Öffentlichkeit. Die gesamte Veranstaltung bei der es in einzelnen Sessions neben der Coronapandemie auch um den Klimawandel, Biodiversität oder Public Health geht, kann auf der ÖAW-Website ab 15 Uhr im Livestream verfolgt werden.