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Gene, die das Herz erkranken lassen: Forschende decken weitere Gene auf, die an Herzerkrankungen beteiligt sind

Ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, unter anderem auch von der Universität zu Lübeck, bringen Dutzende neuer Genorte mit dem Risiko für koronare Herzkrankheiten (KHK) in Verbindung und leisten damit Pionierarbeit bei der Erforschung der biologischen Ursachen von Volkskrankheiten. In einer großangelegten Studie werteten die Forschenden Daten von mehr als einer Million Menschen aus.

In den vergangenen 15 Jahren wurden bereits 200 Genorte im menschlichen Genom mit dem Risiko für KHK, der weltweit häufigsten Todesursache, in Verbindung gebracht. Dennoch verstehen die Forschenden nicht vollständig, wie diese genetischen Varianten die Funktion von Proteinen, Zellen oder Geweben verändern und so Krankheiten verursachen – ein Wissen, das zu neuen Behandlungen führen könnte.

Großangelegte Studie wertet Daten von mehr als einer Million Menschen aus

In einer groß angelegten Studie haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des internationalen CARDIoGRAMplusC4D-Konsortiums nun DNA-Daten von erstmalig mehr als einer Million Menschen, darunter über 200.000 mit KHK, analysiert. Die Forschenden entdeckten 68 neue Genorte oder Loci, also die Position eines Gens im Genom, die mit einem erhöhten KHK-Risiko in Verbindung gebracht werden, womit sich die Gesamtzahl auf mehr als 250 erhöht. Darüber hinaus entwickelten sie einen neuartigen Ansatz, der acht verschiedene Beweislinien umfasst, und nutzten diesen, um systematisch 220 kausale Kandidatengene zu ermitteln, die den assoziierten Loci zugrunde liegen. Exemplarisch überprüften sie die Rolle eines dieser mutmaßlich ursächlichen Gene durch Genom-Editierung und zellbasierte Experimente. Sie zeigten damit, wie leistungsfähig ihre Methode ist, um herauszufinden, wie spezifische Gene an der Entwicklung von KHK beteiligt sein könnten.

Die Arbeit, die am 6. Dezember 2022 in Nature Genetics veröffentlicht wurde, liefert damit ein vollständigeres Bild der genetischen Ursachen der KHK, stellt eine Liste von Genen und genetischen Varianten für künftige Untersuchungen bereit und demonstriert eine Analysepipeline für die Identifizierung kausaler Gene, die auch zur Erforschung anderer Krankheiten durch genomweite Assoziationsstudien (GWAS) genutzt werden kann.
„Diese langjährige Studie ist wegweisend auf dem Gebiet der Genetik der koronaren Herzkrankheit“, sagt Prof. Dr. Jeanette Erdmann, Co-Letztautorin der Studie, DZHK-Professorin und Direktorin des Instituts für Kardiogenetik an der Universität zu Lübeck. „Wir hoffen, dass unser Ansatz Arbeitsgruppen, die sich mit genomweiten Assoziationsstudien anderer Erkrankungen befassen, dazu ermutigt, ähnlich systematisch genetische Loci mit mehreren Evidenzlinien zu untersuchen und ihre Ressourcen für andere Forschende zur Abfrage bereitzustellen“, sagt Prof. Erdmann. „Denn diese Studien sollten nicht mit der Veröffentlichung von Genlisten enden – sie bereiten vielmehr den Weg für neue mechanistische Untersuchungen, die unabdingbar für die Entwicklung von neuen Therapien sind. Eine Strategie, die wir im Institut für Kardiogenetik seit zehn Jahren erfolgreich verfolgen“.

Weltweite Zusammenarbeit von Forschenden

Die Daten werden über das „Common Metabolic Diseases Knowledge“ Portal (CMDKP) der Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellt. Das CMDKP wurde von einem Team von Wissenschaftler*innen am Broad Institute, der University of Michigan, der University of California in San Diego, dem European Bioinformatics Institute und vielen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen eines weltweiten wissenschaftlichen Konsortiums entwickelt. Das CMDKP aggregiert, analysiert und stellt humangenetische und funktionelle genomische Informationen, die mit häufigen Stoffwechselkrankheiten und -merkmalen in Verbindung stehen, zur Verfügung und schützt dabei die Integrität und Vertraulichkeit der zugrunde liegenden Daten (siehe: https://hugeamp.org/method.html?trait=cad&dataset=cardiogram).

Mit dem Aufkommen großer Biobanken und Kohorten in den letzten Jahren konnte die Forschungsgemeinschaft immer größere Datensätze auf genetische Zusammenhänge mit Krankheiten untersuchen. In der aktuellen Studie wollten die Forscher die Suche nach genetischen Assoziationen zu Herzkrankheiten ausweiten und zeigen, dass ihr neuer Analyseansatz die funktionellen Auswirkungen von krankheitsbezogenen Loci aufdecken kann. Für die aktuelle Studie sammelten die Wissenschaftler des Konsortiums genetische und medizinische Daten von mehr 1 Million Menschen überwiegend europäischer Abstammung aus der UK Biobank, dem CARDIoGRAMplusC4D-Konsortium, prospektiven Kohorten, Krankenhausbiobanken und klinischen Studien, darunter fast 200.000 Menschen mit KHK.

Sie führten eine GWAS-Meta-Analyse des gesamten Datensatzes durch, wobei sie DNA-Stellen im Genom jeder Person durchsuchten, um genetische Varianten zu identifizieren, die mit größerer Wahrscheinlichkeit bei den Betroffenen zu finden sind. Sie fanden 241 Stellen im Genom, die mit dem KHK-Risiko in Verbindung gebracht wurden, darunter 30, die bislang noch nie mit der Krankheit in Verbindung gebracht worden waren.
Die meisten dieser neuen Loci waren mit einer sehr geringen Veränderungen des KHK-Risikos verbunden, was darauf hindeutet, dass nur noch wenige, wenn überhaupt, gemeinsame genetische Varianten mit signifikanten Auswirkungen auf das KHK-Risiko durch die Untersuchung von Populationen hauptsächlich europäischer Abstammung zu finden sind.

Kombinierte Datensätze lieferten vertiefte Erkenntnisse

Um die Power der Studie zu erhöhen, kombinierten die Forschenden ihren großen Datensatz mit Daten von Zehntausenden von Personen ostasiatischer Abstammung aus der Biobank Japan, darunter 29.000 mit KHK. Die kombinierte Analyse ergab zusätzliche 38 Loci, die mit dem KHK-Risiko in Verbindung stehen. „Künftige GWAS, die eine größere Anzahl von Populationen mit unterschiedlichen Vorfahren umfassen, werden wahrscheinlich mehr Erkenntnisse liefern als solche, die sich auf Teilnehmer mit europäischer Abstammung beschränken“, sagt Jeanette Erdmann.

Das Team wollte noch weiter gehen und nicht nur diese GWAS-„Treffer“ finden, sondern sie auch mit den in der Nähe liegenden nahe Genen in Verbindung bringen, die KHK verursachen, wenn sie funktionell gestört sind.
Die Forschenden wendeten ihre Analysepipeline auf alle KHK-Risiko Loci an, um systematisch und nach den krankheitsverursachenden Genen zu suchen. Diejenigen Gene, die drei oder mehr der acht Kriterien als erfüllten, wurden mit hoher Wahrscheinlichkeit als die kausalen Gene angesehen, die den GWAS-Treffern zugrunde liegen. Das Team über-prüfte eines dieser kausalen Gene, MYO9B, mit Hilfe von Genom-Editing und zellbasierten Experimenten und stellte fest, dass es das Risiko für KHK durch die Regulierung der Gefäßzellenmotilität zu vermitteln scheint.

Um den potenziellen klinischen Nutzen ihrer Ergebnisse zu erforschen, erstellten die Forschenden einen neuen polygenen Risikoscore, der mehr als 2 Millionen Varianten im Genom umfasst und das Risiko sowohl einer neu auftretenden als auch einer wiederkehren-den KHK vorhersagt. Der Score basierte auf den Daten von etwa dreimal so vielen Personen wie der bereits vorhandene Risikoscore für KHK. Obwohl der Score des Teams das Risiko einer Person für neue und wiederkehrende KHK besser vorhersagte, war die Verbesserung angesichts der großen Zunahme der GWAS-Stichprobengröße überraschend bescheiden. Dies deutet darauf hin, dass eine größere Vielfalt der Vorfahren und Fortschritte bei den polygenen Scoring-Methoden eher zu substanziellen Verbesserungen der poly-genen Risikoscores führen können, als dies durch immer größere GWAS mit nur einem Vorfahren möglich ist.

Fast 100 beteiligte Forschende aus mehr als 20 Ländern

An der Arbeit waren fast 100 Forschende aus mehr als 20 Ländern beteiligt, wobei Tao Jiang, Anuj Goel, Stavroula Kanoni, Brooke Wolford, Deepak Atri, Rajat M Gupta, Jeanette Erdmann, Nilesh J. Samani, Heribert Schunkert, Hugh Watkins, Cristen J. Willer, Panos Deloukas und Sekar Kathiresan eine Schlüsselrolle spielten. Zu den kooperierenden Einrichtungen gehören die Universität Oxford, die Queen Mary University of London, die Universität Michigan, die Universität Leicester, die Universität München und die Universität zu Lübeck.

Die Arbeit wurde teilweise vom National Heart, Lung, and Blood Institute, National Institutes of Health, U.S. Department of Health and Human Services, National Human Genome Research Institute, American Heart Association, dem UK Medical Research Council, Health Data Research UK, dem Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung (DZHK) und der British Heart Foundation finanziert.

Originalpublikation:

Discovery and systematic characterization of risk variants and genes for coronary artery disease in over a million participants: https://doi.org/10.1038/s41588-022-01233-6