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Hannover Messe: Mikro-Massage im Bein – Künstliche Muskeln lassen Knochenbrüche besser heilen

Implantate, die bei Brüchen die Knochenteile fixieren, sollen selbst die Heilung permanent überwachen und gezielt fördern – etwa mit Mikro-Massagen an der Bruchstelle. Ingenieurwissenschaftler, Mediziner und Informatiker der Universität des Saarlandes arbeiten hierzu im Projekt „Smarte Implantate“ zusammen. Das Ingenieurteam der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki stattet das Implantat mit intelligenten „künstlichen Muskeln“ aus: Formgedächtnisdrähte bringen den Heilungsprozess via Smartphone unter Kontrolle. Auf der Hannover Messe vom 22. bis 26. April zeigen die Forscherinnen und Forscher ihren Prototyp (Halle 2 Stand B10).

Knochen sind stabil und elastisch zugleich, sie wachsen, sind ständig im Umbau und halten einiges aus. Brechen sie, können sie heilen, sofern die Bruchstücke richtig aneinander liegen. Aber manchmal klappt das nicht wie geplant und der Knochen wächst trotz Operation nicht richtig zusammen. Vor allem bei Unterschenkelfrakturen kommt dies öfter vor – bei etwa vierzehn von hundert Patienten. Weil Ärztinnen und Ärzte nach der Operation nicht ins Bein blicken und dem Knochen beim Heilen zuschauen können, bleibt lange unbemerkt, was sich dort anbahnt. Erst nach Wochen zeigt ein Röntgenbild, ob neues Knochengewebe an der richtigen Stelle macht, was es soll. Tut es das nicht, folgen Schmerzen, Arbeitsunfähigkeit und hohe Kosten.

Für einen permanenten Einblick ins Bein soll jetzt ein neues Implantat sorgen: Es soll den Heilungsverlauf ununterbrochen beobachten, kontrollieren und sogar gezielt aktiv fördern. Hieran arbeitet an der Universität des Saarlandes ein großes Forschungsteam an der Schnittstelle von Medizin, Ingenieurwissenschaft und Informatik zusammen. „Wir entwickeln gemeinsam ein smartes Implantat, das ohne zusätzliche Eingriffe oder Apparaturen auskommt. Hierzu verleihen wir dem Implantat, das ohnehin gebraucht wird, um die Knochenstücke zusammenzuhalten, völlig neue Fähigkeiten“, erklärt Professor Stefan Seelecke, der mit seinem Team an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA) forscht.

Das smarte Implantat wird es in sich haben: Sofort, sobald die OP-Wunde vernäht ist, soll die Implantat-Platte selbst unablässig informieren, wie der Bruch heilt. Belasten Patientin oder Patient den Bruch ungünstig, soll sie warnen. Am Frakturspalt, wo die Knochenbruchteile aneinander liegen, soll das Implantat nach Bedarf steif oder weich werden und – das ist der besondere Clou – es soll durch kleine Bewegungen dort eine Mikro-Massage vollführen: Dies fördert die Knochenheilung aktiv durch Wachstumsanreize. All dies soll automatisch ablaufen und von außen via Smartphone steuerbar sein. In das Implantat fließt das Knowhow verschiedenster Fachdisziplinen.

Eine zentrale Rolle spielen haarfeine Drähte aus Nickel-Titan, auch Formgedächtnisdrähte genannt. Sie sind im Projekt der Part des Teams der Experten für smarte Materialsysteme Stefan Seelecke und Paul Motzki: Die Saarbrücker Ingenieurinnen und Ingenieure verleihen dem Implantat damit seine „intelligenten Muskeln“: „Wir nutzen Formgedächtnisdrähte zum einen als Antriebe: Sie sorgen im Implantat dafür, dass dieses steif oder weich werden, sich bewegen und Kraft ausüben kann. Zum anderen nutzen wir die Drähte als Sensor, um die Abläufe am Frakturspalt im Auge zu behalten“, erklärt Paul Motzki, der mit „Smarte Materialsysteme für innovative Produktion“ eine Brückenprofessur zwischen Universität des Saarlandes und ZeMA innehat.

Die Nickel-Titan-Drähte können sich ähnlich wie Muskeln verkürzen und wieder lang werden, je nachdem ob Strom durch sie fließt. Der Grund liegt im Kristallgefüge der Legierung: „Nickel-Titan hat ein Formgedächtnis. Die Legierung besitzt auf Kristallgitterebene zwei Phasen, die sich ineinander umwandeln können“, erklärt Paul Motzki. „Fließt Strom, erwärmt sich der Draht, seine Kristallstruktur wandelt sich um und verkürzt sich. Wird der Strom abgeschaltet, kühlt er ab, wechselt die Phase und wird lang wie zuvor.“ Indem die Ingenieure die Drähte abwechselnd anspannen und entspannen und sie als Spieler und Gegenspieler einer Beuge- und Streckmuskulatur zusammenarbeiten lassen, entsteht Bewegung: Bündel der feinen Drähte werden zu Muskelfasern der Technik. „Mehrere Drähte geben durch die größere Oberfläche mehr Wärme ab, dadurch können wir sie schnell kontrahieren lassen“, erläutert Stefan Seelecke. Die künstlichen Muskelstränge sind dabei auf kleinstem Raum sehr kräftig. „Sie haben hohe Zugkraft und die höchste Energiedichte von allen bekannten Antriebsmechanismen“, sagt er.

Die Muskeln selbst dienen dabei als Sensoren. „Verformen sich die Drähte, ändert sich der elektrische Widerstand. Wir können jeder noch so kleinen Verformung des Drahts einen präzisen Messwert zuordnen. Das macht es möglich, an den Zahlen alle sensorischen Daten abzulesen“, sagt Doktorandin Susanne-Marie Kirsch, die hieran forscht. Anhand der Messwerte lassen sich also einerseits winzigste Veränderungen am Frakturspalt ablesen. In Zusammenarbeit mit dem Unfallchirurgen der Universität des Saarlandes Professor Tim Pohlemann und der Professorin für Innovative Implantatentwicklung Bergita Ganse, die das Gesamtprojekt leiten, werden daraus Rückschlüsse auf den Heilungsverlauf möglich: ob also die Steifigkeit im Knochenbruch zunimmt. Diese Informationen werden künftig – in dem Falle drahtlos – ans Smartphone übermittelt. Und: Andererseits werden durch die Zusammenarbeit über Fächergrenzen hinweg Rückschlüsse auch darauf möglich, was die Heilung fördert: die gezielte Stimulation des Frakturspalts. Mit den Messwerten lassen sich die Drähte nach einer Choreografie bewegen. Die Ingenieure können präzise Bewegungsabläufe der Drähte modellieren und programmieren, oder sie einfach in jeder beliebigen Stellung innehalten lassen.

In ihrem Prototyp, den sie auf der Hannover Messe vorstellen, zeigen die Ingenieure, wie sie ihre künstlichen Muskeln im Implantat zum Einsatz bringen: Diese liegen über den Frakturspalt hinweg. Über elektrische Impulse werden die Drahtmuskelstränge nach Bedarf länger, kürzer oder bleiben stehen und sorgen dafür, dass die Platte am Frakturspalt weicher oder steifer wird. Die Forscher können die künstlichen Muskeln am Frakturspalt ansteuern, so dass sie langsame oder schnelle Hubbewegungen vollführen. Bei einem Hubweg von 100 bis 500 Mikrometer wird der beste heilungsfördernde Erfolg erwartet. Dank ihrer automatisch integrierten Sensoreigenschaften dienen die Drähte dabei auch als Nerven des Implantats: Bewegen sie sich am Frakturspalt, merken die Forscher, ob der Knochen hier fester wird, also heilt, weil die Drähte dann schlicht mehr ziehen müssen. Die Steuerung läuft über einen Halbleiterchip. „Die Regelungseinheit ordnet den Messwerten des elektrischen Widerstands die jeweilige Deformation der Drähte zu, so dass die Bruchstelle gezielt durch Bewegung stimuliert und sozusagen massiert werden kann“, erklärt Doktorand Felix Welsch, der an den smarten Implantaten mitarbeitet. Zusätzliche Eingriffe von außen sind bei all dem nicht nötig – auch nicht zum Aufladen: „Das Implantat wird einen leistungsstarken Akku haben und im Körper durch drahtlose Induktion aufladen können“, sagt Paul Motzki.

Hintergrund

Das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki nutzt die Formgedächtnis-Technologie für die verschiedensten Anwendungen vom neuartigen Kühl- und Heizsystem über Robotergreifer bis hin zu Ventilen und Pumpen. Auf der Hannover Messe zeigen die Saarbrücker Expertinnen und Experten für intelligente Materialsysteme auch smarte Kleinantriebe, energieeffiziente Greifsysteme und weiche Roboterarme in Form von Elefantenrüsseln sowie ein neues Kühl- und Heizverfahren. An der Technologie forschen viele Doktorandinnen und Doktoranden im Rahmen ihrer Doktorarbeiten mit. Sie ist Gegenstand zahlreicher Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und wird in mehreren großen Forschungsprojekten gefördert.
Die Ergebnisse der anwendungsorientierten Forschung bringen die Forscher in die Industriepraxis. Aus dem Lehrstuhl haben sie die Firma mateligent GmbH gegründet.

Die Werner Siemens-Stiftung fördert das Projekt „Smarte Implantate“ mit acht Millionen Euro. Die Gesamtprojektleitung liegt in der Unfallchirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes bei Professor Tim Pohlemann und am Lehrstuhl für Innovative Implantatentwicklung (Frakturheilung) bei Professorin Bergita Ganse (sie hat die gleichnamige Werner Siemens-Stiftungsprofessur inne). An der Universität des Saarlandes werden hierbei unter anderem Themen erforscht wie Ganganalyse und Frakturüberwachung für intelligente Implantate, Stimulation der Frakturstelle, Implantatplanung und -konfiguration in Computersimulationen sowie Künstliche Intelligenz für Implantate mit Sensor- und Handlungsfähigkeiten. Hierbei arbeiten zusammen: das Forschungsteam der Unfallchirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes von Professor Tim Pohlemann und der Lehrstuhl von Professorin Bergita Ganse, das Team für intelligente Materialsysteme der Professoren Stefan Seelecke und Paul Motzki, die Arbeitsgruppe von Ingenieur Professor Stefan Diebels auf dem Gebiet der Technischen Mechanik und die des Informatikers Professor Philipp Slusallek (Universität und Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz DFKI).