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Warum Gendergerechtigkeit in der Medizin allen etwas bringt

Die meisten Medikamente sind auf Männer zurechtgeschnitten. Aber was bedeutet das für Frauen? Welche ungewollten Nebenwirkungen haben sie? Und warum wird Gendermedizin in vielen Bereichen nach wie vor vernachlässigt obwohl sie langfristig hilft, Kosten zu sparen? Die britische Ärztin Kate Womersley ist am International Day of Women and Girls in Science an der ÖAW zu Gast und erzählt im Gespräch von ihren Erfahrungen.

Während ihrem Medizinstudium machte die Britin Kate Womersley eine seltsame Beobachtung: Die weibliche Brust wurde im Anatomiekurs nicht besprochen, obwohl Brustkrebs nach Lungenkrebs die zweithäufigste tödliche Krebserkrankung bei Frauen ist. Damit begann für sie ein Prozess, sich mit dem Thema Gendermedizin auseinanderzusetzen. 2021 schrieb sie an alle großen Forschungsförderer und Aufsichtsbehörden in England und fragte, ob sie für die von ihnen geförderte Forschung eine Geschlechterpolitik verfolgen. Wurden Forscher:innen und Antragsteller:innen mit Fördermitteln ermutigt, bei der Konzeption ihrer Studien, der Rekrutierung von Teilnehmenden, der Analyse ihrer Daten und der Kommunikation ihrer Ergebnisse über geschlechtsspezifische Unterschiede nachzudenken? Damals verfügte kein einziger britischer Forschungsförderer über eine entsprechende Politik.

Das bewog sie, das Projekt MESSAGE (Medical Science Sex and Gender Equity) ins Leben zu rufen. Ihr Fazit heute: „Das Vereinigte Königreich hat seinen Rückstand aufgeholt und schließt nun zu Kanada und den USA auf, die über klare Leitlinien für die Einbeziehung von Frauen und die Berücksichtigung des Geschlechts bei der Forschungsfinanzierung verfügen.“

Im Rahmen der Veranstaltung „Women in Science: Breaking Frontiers“ ist Womersley bei einer Diskussionsrunde von Expertinnen an der ÖAW zu Gast, die gemeinsam mit den Botschaften Kanadas, Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Schwedens, der Schweiz und des Vereinigten Königreichs ausgerichtet wird. Im Gespräch erklärt sie, welche hartnäckigen Vorurteile es nach wie vor gibt.

Fokus auf Männer führt zu langfristigen Kosten

Wie sind Sie auf das Thema Gendermedizin gekommen?

Kate Womersley: Ich habe an der Universität von Cambridge Medizin studiert, wo das Sezieren von Leichen als Teil des Anatomieunterrichts eine lange Tradition hat. Und war überrascht, als ich feststellte, dass Brüste nicht Teil unseres Unterrichts waren, obwohl jeder Muskel und jede Sehne an den Händen und Füßen besprochen wurden. Ein Freund und ich setzten uns dafür ein, das zu ändern. Geschlechtsspezifische Vorurteile in der medizinischen Ausbildung, aber auch in der klinischen Praxis spielen sich oft im Verborgenen ab. Oft gar nicht mit Absicht, sondern aufgrund einer langen Geschichte, in der Frauen bei der Vermittlung von Wissen über den menschlichen Körper und bei der Behandlung desselben eine untergeordnete Rolle spielten. Heute arbeite ich als Ärztin in der Psychiatrie, derzeit betreue ich Frauen, die während der Schwangerschaft oder nach der Geburt an psychischen Erkrankungen leiden, wobei die physiologischen, hormonellen und sozialen Kräfte, die zu Krankheiten beitragen, im Mittelpunkt stehen.

Ein gängiges Argument ist, dass es billiger sei, an Männer zu testen, weil der Hormonspiegel konstanter ist.

Womersley: Sowohl in der präklinischen als auch in der klinischen Forschung herrscht die Meinung vor, dass männliche Tiere leichter zu untersuchen sind, weil sie keinen Brunst- oder Menstruationszyklus haben und nicht schwanger werden können. Vermeintliche Einfachheit und geringe Kosten sind gängige Ausreden. Aber wenn man Frauen und geschlechtsspezifische Menschen von der Forschung ausschließt, treibt man die Kosten letztendlich in die Höhe. Es kann großen Schaden anrichten, wenn Medikamente auf den Markt kommen, die nicht gründlich an Frauen getestet wurden. McKinsey schätzt, dass die Weltwirtschaft jährlich um eine Billion Dollar angekurbelt werden könnte, wenn die Gesundheit von Frauen angemessen berücksichtigt und finanziert würde.

Frauen von Nebenwirkungen stärker betroffen

Was bedeutet es konkret für Frauen, wenn Medikamente an Männern getestet werden?

Womersley: In meinem Fachgebiet, der Psychiatrie, wissen wir zum Beispiel, dass Frauen und Männer oft die gleiche Dosis an antipsychotischen Medikamenten erhalten, wenn sie an einer psychotischen Krankheit wie Schizophrenie oder bipolarer affektiver Störung leiden. Frauen benötigen jedoch oft eine niedrigere Dosis, um die beabsichtigte therapeutische Wirkung zu erzielen. Für Frauen besteht daher die Gefahr, dass unnötige Nebenwirkungen auftreten, die nicht nur unerwünscht und lästig, sondern auch gefährlich sein können. Eine Studie aus dem Jahr 2001 ergab, dass acht von zehn verschreibungspflichtigen Medikamenten, die seit 1997 in den USA vom Markt genommen wurden, für Frauen ein größeres Gesundheitsrisiko darstellen als für Männer. Im Jahr 2013 wurde ein Sicherheitshinweis veröffentlicht, indem geschlechtsspezifische Unterschiede im Stoffwechsel von Zolpidem, einem Schlafmittel, festgestellt wurden und empfohlen wurde, bei Frauen niedrigere Dosen zu verwenden, um übermäßige Nebenwirkungen am nächsten Morgen zu vermeiden.

Wie sieht es mit Vorurteilen und Stereotypen in der Wahrnehmung aus? Bei Herzinfarkten denkt man immer noch an den gestressten männlichen Manager.

Womersley: Herzkrankheiten sind weltweit die häufigste Todesursache bei Frauen, und diese Tatsache wird oft übersehen. Die Kardiologie als medizinisches Fachgebiet ist führend bei der Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Dimensionen in der Medizin. Forscher:innen haben gezeigt, dass Frauen im Vergleich zu Männern bei einem Herzinfarkt zusätzliche Symptome aufweisen können (neben linksseitigen Brustschmerzen können sie sich krank, kurzatmig und schwindlig fühlen), dass sich ihr Risikoprofil nach der Menopause aufgrund des Rückgangs des kardioprotektiven Östrogens verändert ist, und dass Frauen bei einem Herzinfarkt seltener Stents und Bypass-Operationen angeboten werden als Männern. Diese geschlechtsspezifischen Aspekte sind wichtig, um die Diagnose und Behandlung von Frauen mit Herzerkrankungen zu verbessern, was längst überfällig ist.

Warum ist es wichtig, auch soziale Aspekte zu berücksichtigen?

Womersley: Die beruflichen Gefahren bei der Arbeit in Nagelstudios oder auf Baustellen sind sehr unterschiedlich und können sich auf die Krankheiten auswirken, die Menschen entwickeln. Natürlich teilen sich Männer und Frauen viele Arbeitsplätze, aber es gibt immer noch Berufe, in denen es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Art der Arbeit und den spezifischen Risiken gibt, denen Männer und Frauen eher ausgesetzt sind.

Auf einen Blick 

Kate Womersley forschte in Cambridge und Harvard und ist aktuell Ärztin für Psychiatrie im National Health Service in Edinburgh.

Im Rahmen des International Day of Women and Girls in Science am 11. Februar 2025 trifft sich an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) eine hochkarätige Expert:innenrunde zur internationalen Veranstaltung „Women in Science: Breaking Frontiers – A Data Perspective“. Beleuchtet wird, wie KI die medizinische Forschung und Praxis verändert – und welche Rolle Frauen dabei spielen. Die Veranstaltung ist eine Zusammenarbeit der ÖAW mit den diplomatischen Vertretungen Kanadas, Frankreichs, Italiens, der Niederlande, Schwedens, der Schweiz und des Vereinigten Königreichs.