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Demenz: Neues Modell der häuslichen Versorgung bewährt sich im Praxistest
Innovationsausschuss beim G-BA empfiehlt Einsatz in der Regelversorgung
Greifswald. Speziell qualifizierte Pflegefachkräfte mit erweiterten Kompetenzen – sogenannte Dementia Care Manager – können die Versorgung von Menschen mit Demenz, die zu Hause leben, messbar verbessern. Zu diesem Fazit kommt eine Studie des DZNE gemeinsam mit zahlreichen Partnern aus dem Medizin- und Gesundheitsbereich. Mehr als 400 Personen mit leichter bis mittelschwerer Demenz nahmen daran teil. Die Betreuung durch Dementia Care Manager schloss Versorgungslücken wirksamer als die übliche Routineversorgung und steigerte die Lebensqualität der Betroffenen. Aus dem höchsten Gremium der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen – dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) – kommt daher die Empfehlung, das Dementia Care Management in die Regelversorgung einzuführen. Das innovative Versorgungskonzept wurde vom DZNE entwickelt. Partner des aktuellen Projekts waren die Universitätsmedizin Greifswald, die Universitätsmedizin Rostock, die Techniker Krankenkasse, die AOK Nordost sowie die Ärzte- und Demenznetzwerke HaffNet Management GmbH, Demenz-Netzwerk Uckermark e.V., Gesundheitsnetz Frankfurt am Main eG (GNEF) und MEDIS Management GmbH.
„Aufgrund der positiven Erfahrungen aus früheren Pilotprojekten wird das Dementia Care Management bereits von der medizinischen S3-Leitlinie für Demenzerkrankungen empfohlen. Zudem ist es Bestandteil der Nationalen Demenzstrategie“, erläutert Prof. Wolfgang Hoffmann, Versorgungsforscher am DZNE-Standort Rostock/Greifswald und Geschäftsführender Direktor des Instituts für „Community Medicine“ an der Universitätsmedizin Greifswald. „Das positive Votum aus dem G-BA gibt diesem Versorgungskonzept nun weiteren Rückenwind. Wir setzen uns sehr dafür ein, dass das Dementia Care Management in die Praxis kommt. Die Wirkung geht signifikant über die übliche Versorgung von Menschen mit Demenz hinaus. Außerdem stärkt das Dementia Care Management die Eigenverantwortung und Weiterentwicklung im Pflegeberuf und kann Hausärztinnen und Hausärzte wirksam entlasten.“
Die Universitätsmedizin Rostock, vertreten durch das Institut für Allgemeinmedizin, leistete einen zentralen Beitrag im Bereich der Schulung und Ausbildung. Im Fokus stand die Entwicklung von praxisnahen Lehrfilmen mit eigens verfasstem Kurzlehrbuch zur Stärkung der kommunikativen Kompetenzen der Dementia Care Manager. „Uns war wichtig, die oft komplexe Kommunikation mit Menschen mit Demenz greifbar zu machen und Lehrmaterial zu schaffen, das sowohl fundiert als auch direkt in der Praxis anwendbar ist“, erklärt Dr. Anja Wollny, stellvertretende Leiterin des Instituts für Allgemeinmedizin an der Universitätsmedizin Rostock. „Mit den Lehrfilmen und dem Kurzlehrbuch geben wir den Fachkräften Werkzeuge an die Hand, um empathisch, zielgerichtet und professionell zu kommunizieren – eine Grundvoraussetzung für eine gelingende Versorgung.“
„Das Dementia Care Management zeigt, wie wir durch Innovationen das Leben von Menschen mit Demenz und ihren Familien verbessern können. Entscheidend ist dabei, dass Pflegepersonen mit erweiterten Kompetenzen eigenverantwortlich handeln und die verschiedenen Versorgungsbereiche miteinander verzahnen. Das entlastet die Hausärztinnen und Hausärzte. Außerdem sorgt es für mehr Qualität und Kontinuität in der häuslichen Betreuung“, betont Manon Austenat-Wied, Leiterin der TK-Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern.
„Als Krankenkasse verstehen wir uns als aktive Gestalterin der Versorgung. Innovationsfondsprojekte sind für uns eine wichtige Möglichkeit, unabhängig von finanziellen und rechtlichen Zwängen neue Versorgungsformen zu erproben und ihre Wirkung zu prüfen“, erläutert Waldemar Wiets, Leiter des Bereiches Gesundheitslandschaft bei der AOK Nordost. „Im Projekt InDePendent hat sich gezeigt: Eine bedarfsgerechte, von qualifizierten Pflegefachkräften gesteuerte Versorgung verbessert die Unterstützung von Demenzerkrankten spürbar. Die Behandlung war für die Krankenkassen zwar teurer als die normale Versorgung. Aus der Evaluation geht aber auch hervor, dass die Patientinnen und Patienten ein Plus an Lebensqualität gewinnen. Das Projekt war damit ein wichtiger Schritt in Richtung einer zukunftsfähigen Versorgung. Die Ergebnisse der Evaluation und die im Verlauf entwickelten Module fließen in die Weiterentwicklung unserer Versorgungsangebote mit ein.“
Die aktuelle Studie namens „InDePendent“ wurde vom G-BA über den Innovationsfonds gefördert. Die Befunde sind im internationalen Fachjournal „Alzheimer’s & Dementia“ veröffentlicht.
Beschluss des Innovationsausschusses beim G-BA: https://innovationsfonds.g-ba.de/beschluesse/independent.353
Hintergrund
In Deutschland gibt es schätzungsweise derzeit etwa 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, die meisten von ihnen leben zuhause und werden von Angehörigen versorgt. „Professionelle Unterstützung ist wesentlich dafür, dass es Menschen mit Demenz und Angehörigen, die sie betreuen, gut geht. Studien zeigen gleichwohl, dass die Versorgungslage den tatsächlichen Bedürfnissen häufig nicht gerecht wird. Medikamente werden zum Beispiel nicht verschreibungsgemäß eingenommen, ambulante Pflege nicht genutzt oder es fehlt an Hilfe im Haushalt oder beim Transport zum Arzt“, erläutert Versorgungsforscher Wolfgang Hoffmann.
„Man muss sich bewusst machen, dass es in der Regel um ältere Menschen geht. Neben der Demenz haben sie meist noch andere gesundheitliche Einschränkungen. Deshalb ist eine umfassende Betreuung wichtig – organisatorisch wie pflegerisch. Unser Ansatz ist es daher, Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen eine speziell qualifizierte Fachkraft zur Seite zu stellen, die sie berät, notwendige Dinge organisiert und bei Bedarf mit anpackt. Das ist die Idee des Dementia Care Managements.“
Pflegeprofis mit erweiterten Kompetenzen
Das innovative Versorgungskonzept wurde vom DZNE entwickelt und in mehreren Pilotprojekten bereits erfolgreich erprobt. Im Rahmen der aktuellen Studie wurde das bisherige Curriculum für Dementia Care Manager um zusätzliche Qualifizierungsmodule erweitert. Die Aufgaben und Befugnisse dieser speziell geschulten Pflegefachkräfte umfassten damit auch erstmalig „heilkundliche Tätigkeiten“, die sonst ausschließlich Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sind. Die Ausbildung beeinhaltete auch eine staatliche Abschlussprüfung. Zu den erweiterten Aufgaben gehörten unter anderem das Verabreichen von Spritzen, die Verordnung von Pflegehilfsmitteln sowie die Versorgung komplexer Wunden. Diese Maßnahmen erfolgten eigenständig, in Abstimmung mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten.
„Durch den erweiterten Kompetenzbereich konnten die Care Manager eine umfassendere Versorgung leisten, als es in der Routineversorgung möglich ist“, so Dr. Anika Rädke, Forscherin am DZNE und Erstautorin der Fachveröffentlichung zur aktuellen Studie. „Zugleich wurden die zugehörigen Hausärztinnen und Hausärzte wirksam entlastet, weil diese in der Regel nur sehr begrenzte Kapazitäten für Hausbesuche haben.“
Studie in drei Bundesländern
An der Untersuchung beteiligten sich verschiedene Ärzte- und Demenznetzwerke aus Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Hessen. Insgesamt 417 Männer und Frauen wurden eingeschlossen. Sie waren im Durchschnitt 81 Jahre alt, lebten zu Hause und hatten eine leichte bis mittelschwere Demenz. Zu Studienbeginn erfassten die Dementia Care Manager mithilfe eines vom DZNE und der Universitätsmedizin Greifswald entwickelten, tabletbasierten Erhebung die jeweilige Versorgungssituation und ermittelten bestehende Lücken. Auf dieser Grundlage wurde dann für alle Betroffene ein individueller Maßnahmenplan erstellt.
Das Dementia Care Management wurde jeweils für ein halbes Jahr umgesetzt. Bei knapp der Hälfte der Studienteilnehmenden geschah dies unmittelbar nach der Anfangserhebung, die übrigen Probanden erhielten zunächst eine Versorgung nach gängigem Standard und dienten als Kontrollgruppe. Nach sechs Monaten hatten dann auch sie Zugang zum Dementia Care Management. Durch dieses Studiendesign konnten alle Beteiligten die Chancen des neuen Versorgungsmodells wahrnehmen. Zugleich war eine für die wissenschaftliche Evaluation wichtige Vergleichsgruppe gewährleistet.
Besser versorgt
„Das Dementia Care Management konnte Defizite in der Versorgung effizienter beheben als die herkömmliche Vorgehensweise. Es wurde den Bedürfnissen von Menschen mit Demenz also besser gerecht. Das zeigen messbare Indikatoren“, so Anika Rädke. „Nach sechs Monaten war die Anzahl der unerfüllten Versorgungsbedarfe in der Interventionsgruppe um rund 75 Prozent geringer als in der Kontrollgruppe. Außerdem haben wir eine höhere Lebensqualität festgestellt.“ Alleinlebende Menschen mit Demenz profitierten überdurchschnittlich. „Das neue Konzept wurde von allen Beteiligten gut angenommen, einschließlich der Pflegefachkräfte und der Ärzteschaft“, so Rädke.
Länger zuhause bleiben
In der aktuellen Studie war die Dauer des Dementia Care Management auf ein halbes Jahr beschränkt. Aus Sicht der Versicherungen entstanden zwar Mehrkosten im Vergleich zur Routineversorgung – doch aus größerer Perspektive war das Dementia Care Management kosteneffektiv. „Man muss die Einsparungen mitberücksichtigen. Denn Dementia Care Management hilft, Kosten zu vermeiden“, so Wolfgang Hoffmann. „Wenn die Care Manager heilkundliche Aufgaben ausführen, statt der Ärztinnen und Ärzte, dann ist das wirtschaftlich günstiger. Außerdem trägt die bessere pflegerische Versorgung zum allgemeinen Gesundheitszustand bei. Dadurch werden Behandlungskosten vermieden, die sonst langfristig zu erwarten sind. Unsere aktuellen Befunde und Langzeitdaten aus Vorgängerprojekten belegen, dass das Dementia Care Management, insgesamt gesehen, kosteneffektiv ist.“
Langzeitdaten aus früheren Projekten zeigten zudem, so Hoffmann, dass Dementia Care Management pflegende Angehörige entlastet und den Umzug in ein Altenheim hinauszögert. „Das entspricht dem Wunsch vieler Menschen mit Demenz. Sie möchten so lange wie möglich zuhause leben“, sagt der Versorgungsforscher.
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE): Das DZNE ist eines der weltweit führenden Forschungszentren für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Diese Erkrankungen bedeuten enorme Belastungen für Betroffene und ihre Angehörigen, aber auch für die Gesellschaft und Gesundheitsökonomie. Das DZNE trägt maßgeblich zur Entwicklung neuer Strategien der Prävention, Diagnose, Versorgung, Behandlung und Pflege bei – und zu deren Überführung in die Praxis. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung.
Originalveröffentlichung
Efficacy and cost-effectiveness of extended nursing roles in dementia care – results of the cluster-randomized trial InDePendent.
Anika Rädke, Bernhard Michalowsky et al.
Alzheimer’s & Dementia: The Journal of the Alzheimer’s Association (2025).
DOI: 10.1002/alz.70727