Das GesundheitsPortal für innovative Arzneimittel, neue Therapien und neue Heilungschancen

Erstmals in Deutschland: MHH behandelt Bluterkrankheit Hämophilie B mit Gentherapie

Eine einzige Spritze löst eine Dauertherapie ab. Dem ersten Patienten eröffnet die neue Methode ganz neue Perspektiven.

In Urlaub fahren, Sport treiben und sich gesund fühlen – was für die meisten Menschen selbstverständlich ist, war für Marvin M. lange Zeit nur ein Traum. Der junge Mann litt an einer schweren Hämophilie B, einer Form der sogenannten Bluterkrankheit, die sein Leben sehr einschränkte. Die Wende brachte ihm eine neuartige Behandlung in der Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Marvin M. bekam eine Gentherapie und hat nun große Chancen auf einen langfristig guten Gesundheitszustand. Er ist der erste Patient in Deutschland, der mit dieser Art Therapie gegen Hämophilie B behandelt wurde.

Ererbte Gerinnungsstörung

Hämophilie B ist eine ererbte Störung der Blutgerinnung, die auf dem Fehlen des Gerinnungsfaktors IX beruht. Die Symptome sind dieselben wie bei Hämophilie A. „Bei den Betroffenen gerinnt das Blutplasma langsamer. Es besteht das Risiko, dass es bei kleinsten Verletzungen oder auch spontan zu Einblutungen in große Gelenke und Muskeln, manchmal sogar in den Magen-Darm-Trakt oder ins zentrale Nervensystem kommt“, erklärt Professor Dr. Andreas Tiede von der Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation. Die Einblutungen haben schwerwiegende Folgen. Dadurch können beispielsweise Gelenke langfristig komplett zerstört werden. Von der Erbkrankheit sind sowohl Männer als auch Frauen betroffen. Eine schwere Ausprägung haben aber fast ausschließlich Männer. Professor Tiede schätzt die Gesamtzahl der schweren Hämophilie B-Patienten in Deutschland auf rund 500. Bei ihnen liegt die Aktivität des Gerinnungsfaktors IX bei unter zwei Prozent der Norm. Um die Gerinnungsaktivität zu erhöhen, müssen sie sich den fehlenden Faktor IX ein Leben lang spritzen. Da dieser eine kurze Halbwertzeit hat, standardmäßig zweimal pro Woche.

Erkrankung war belastend

Das regelmäßige Spritzen kennt Marvin M. nur zu gut. Auch er musste sich zuerst zweimal wöchentlich spritzen, später durch eine Medikamentenumstellung nur noch einmal. Doch trotz der Behandlung blieb die Erkrankung eine große Herausforderung. Sie bestimmte sein Leben und zog Grenzen. Kein wildes Toben, kein Sport, keine Klassenfahrten – aus Vorsicht vor Verletzungen. Und immer wieder gesundheitliche Probleme. „Im Säuglingsalter hatte ich eine Gehirnblutung, die durch eine Operation behoben werden konnte“, berichtet der heute 33-Jährige. Neben häufigem starken Nasenbluten bereitete ihm auch sein rechtes Sprunggelenk Sorgen. Es war in der Kindheit mehrfach eingeblutet und musste 2017 operiert werden. „Operative Eingriffe waren aber grundsätzlich schwierig. Weil Hämophilie B eine sehr seltene Erkrankung ist, sind viele Ärzte verunsichert und es dauerte oft lange, bis etwas gemacht wurde“, sagt Marvin M. und erinnert sich dabei an eine Zahn-OP und einen chirurgischen Eingriff nach einem Arbeitsunfall an seiner Hand. „Das hat mich alles sehr belastet.“

Gentherapie bot gute Aussichten

Glücklicherweise kannte sich aber seine Kinderärztin sehr gut mit Hämophilie aus. „Sie betreute mich auch noch im Erwachsenenalter und machte mich auf die Möglichkeit einer Gentherapie aufmerksam“, berichtet Marvin M. So kam er 2023 in die MHH zu Professor Tiede. „Der Patient hatte durch die wöchentlichen Prophylaxe-Spritzen am Ende der Woche eine Gerinnungsaktiv von etwa 5 Prozent der Norm. Das ist nicht schlecht. Aber die Gentherapie bot ihm die Aussicht, vielleicht 15, 20 oder sogar 30 Prozent zu erreichen, und zwar langfristig stabil ohne Schwankungen innerhalb einer Woche“, erklärt der Experte.

Keine schnelle Entscheidung

Doch eine Erfolgsgarantie gibt es bei der Gentherapie gegen Hämophilie B nicht. Deshalb war die Entscheidung dafür auch nicht schnell getroffen. „Es gibt einfach sehr viel zu bedenken und abzuwägen“, fasst Professor Tiede den monatelangen gemeinsamen Prozess mit Marvin M. zusammen. Dabei geht es um Vor- und Nachteile der Therapie und den Vergleich mit anderen Behandlungsmöglichkeiten, um individuelle Risiken, persönliche Erwartungen und Präferenzen. Und schließlich auch um die Bereitschaft des Patienten, während der Therapie Einschränkungen zu akzeptieren und mit möglichen Nebenwirkungen und deren Folgen zu rechnen. „Der Patient muss ausgewogen und ergebnisoffen beraten werden, um am Ende die für ihn beste Entscheidung zu treffen“, sagt Professor Tiede. Marvin M. wollte die Therapie unbedingt machen, weil er darin große Chancen für sich und seine Zukunft sah.

Gesundes Gen ergänzt das Gen des Patienten

Am 30. Juni dieses Jahres war es soweit. Der junge Mann bekam die einmalige Spritze mit dem Gentherapeutikum, dass seit 2023 in Europa zugelassen ist. Die Gentherapie beruht auf dem adeno-assoziierten Virus (AAV). Das Virus wird vorher im Labor so verändert, dass es im Körper des Patienten nur einmalig in die Zelle gelangen kann. Es ist nicht vermehrungsfähig und enthält keine eigenen Gene mehr, sondern nur noch das Gen für Faktor IX. „Dieses Gen bleibt als klitzekleiner Ring im Zellkern neben den Chromosomen liegen. Das Faktor IX-Gen des Patienten bleibt wie es ist. Das gesunde Gen wird nur hinzugefügt“, erläutert Professor Tiede. Es handelt sich also um eine Ergänzungs-Gentherapie. Das gesunde Gen produziert dann den Gerinnungsfaktor IX. Zwei Wochen nach der Gentherapie konnte Marvin M. seine bisherige Spritzen-Behandlung einstellen. Die Gerinnungsaktivität von Faktor IX lag bei 30 Prozent und hält sich bis heute stabil. Es gab kurzfristig nur einen kleinen Einbruch, weil eine Immunreaktion auftrat und die Leberwerte stiegen. „Eine Nebenwirkung, die wir jedoch mit einer kurzfristigen Kortisontherapie in den Griff bekommen haben“, erklärt Prof. Tiede. Hätte das nicht geklappt, hätte der Hämatologe Professor Dr. Heiner Wedemeyer hinzuziehen können. Der Direktor der Klinik für Gastroenterologie, Hepatologie, Infektiologie und Endokrinologie gilt als Spezialist für die Lebergesundheit bei Gentherapien und ist an der Betreuung der Patientinnen und Patienten beteiligt.

„Lebensqualität hoch zehn“

Über das Ergebnis der Gentherapie sind sowohl Professor Tiede als auch Marvin M. sehr glücklich. „Mich nicht mehr spritzen zu müssen, bedeutet für mich Lebensqualität hoch zehn“, sagt der junge Mann begeistert. Durch die gute und stabile Aktivität des Gerinnungsfaktors IX muss er nicht mehr mit Einblutungen kämpfen. Das heißt, er kann endlich Sport treiben, zum Beispiel Fußball, Basketball und vor allem American Football. „Diese Sportart liegt mir total am Herzen. Jetzt darf ich meine Lieblingsmannschaft nicht nur anfeuern, ich darf diesen Sport auch selbst ausprobieren. Das bedeutet mir sehr viel.“ Außerdem kann Marvin M. endlich mal im Ausland Urlaub machen „Ich habe so viele Pläne, dass meine Freundin mich schon ausbremsen muss“, sagt er augenzwinkernd. Professor Tiede ist ebenfalls optimistisch. „Wir bleiben natürlich weiterhin wachsam, aber es besteht die wirklich große Hoffnung, dass Herr M. viele Jahre in diesem stabilen Zustand bleiben wird“, sagt er. Der Hämatologe hält die Gentherapie bei Hämophilie für besonders geeignet, weil die Wirkung über Blutproben jederzeit sehr gut zu messen ist. „Dennoch ist sie in der Hämophilie nach wie vor eine Behandlungsmethode von vielen. Sie passt nicht für jeden Patienten. Aber bei einigen eben auch sehr gut.“

Text: Tina Götting