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Viele Medikamente lösen Proteinabbau aus

Hilfreicher Nebeneffekt

Seit Jahrzehnten zählen Kinase-Inhibitoren zu den wichtigsten Waffen der Krebsmedizin. Sie sollen die Enzyme ausschalten, die unkontrolliertes Zellwachstum antreiben. Doch manche dieser Inhibitoren können mehr als bisher gedacht: die Zielproteine werden nicht nur blockiert, sondern zusätzlich auch noch abgebaut. Das macht diese Wirkstoffe zu vielversprechenden zusätzlichen Werkzeugen für den gezielten Proteinabbau, einem aufstrebenden Forschungsfeld in der Wirkstoffentwicklung. Eine neue Studie in Nature zeigt nun erstmals systematisch, wie weit dieses Phänomen reicht. Sie entstand unter der Leitung von Wissenschaftler:innen am CeMM und AITHYRA, beides Institute der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, sowie am Institut für biomedizinische Forschung (IRB) in Barcelona, gemeinsam mit Partnern in Europa, den USA und China.

Protein-Kinasen sind die molekularen Schalter der Zelle. Sie steuern Wachstum, Kommunikation, Teilung und Überleben der Zelle, indem sie chemische Verbindungen, sogenannte Phosphatgruppen, auf andere Proteine übertragen. Sind diese Schalter dauerhaft aktiv, können sie Krebs und andere Krankheiten auslösen. Deshalb gehören Kinasen zu einem der wichtigsten Angriffspunkte der modernen Medizin – mehr als 80 Kinase-Inhibitoren sind heute von der US-amerikanischen FDA zugelassen, fast doppelt so viele befinden sich derzeit in klinischer Entwicklung.

Eigentlich wurden diese Medikamente entwickelt, um die enzymatische Aktivität der Protein-Kinasen zu blockieren. Doch das Team unter Leitung des CeMM Forschungszentrum für Molekulare Medizin und dem AITHYRA Institut für Künstliche Intelligenz in der Biomedizin, beides Institute der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien, entdeckte eine überraschende zweite Wirkung: Viele Inhibitoren beschleunigen auch den Abbau einzelner Kinasen. Die Studie, die in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde, zeigt, dass der durch Inhibitoren ausgelöste Proteinabbau ein durchaus weit verbreitetes und möglicherweise nutzbares Merkmal dieser Wirkstoffklasse ist.

Ein systematischer Blick auf ein übersehenes Phänomen

Frühere Beobachtungen hatten bereits darauf hingedeutet, dass Inhibitoren ihre Zielproteine destabilisieren könnten – doch Ausmaß und der dahinterstehende Mechanismus waren unklar. Um das zu untersuchen, analysierten die Forschenden in der Zellkultur 98 Kinasen und testeten sie mit einer Bibliothek von 1.570 Inhibitoren. Das Ergebnis war eindeutig: 232 Wirkstoffe senkten die Levels von mindestens einer Kinase in den Zellen, insgesamt 66 der getesteten Kinasen waren betroffen.

In einigen Fällen verlief der Abbau über den bekannten Mechanismus der sogenannten „Chaperon-Deprivation“: Wenn ein Inhibitor an eine Kinase bindet, kann der schützende Begleitfaktor HSP90 sie nicht mehr stabilisieren und sie wird von der Zelle abgebaut. Doch viele der beobachteten Fälle folgten einem anderen Prinzip. Die Studie zeigt, dass die Kinasen durch ihre Inhibitoren in intrinsisch instabile Zustände versetzt werden können – etwa durch Veränderungen ihrer Aktivität, Lokalisation in der Zelle oder durch die Formation von Proteinkomplexen. Diese veränderten Formen werden dann vom zelleigenen Kontrollsystem erkannt und infolgedessen abgebaut.

„Wir waren überrascht, wie häufig dieser Effekt auftritt“, sagt Natalie Scholes, Senior Postdoc am CeMM der ÖAW und Erstautorin der Studie. „Kleine Moleküle blockieren nicht nur die Aktivität einer Kinase, sie können sie auch in instabile Zustände versetzen, die die Zelle dann erkennen kann und beseitigt. Inhibitoren können also zugleich destabilisierend wirken – das erweitert unser Verständnis ihres Wirkungspotenzials erheblich.“

Drei Beispiele, ein Prinzip

Um die Mechanismen im Detail zu verstehen, untersuchte das Team drei besonders anschauliche Fälle: Bei der Kinase LYN führte der Inhibitor innerhalb weniger Minuten zum Abbau des Proteins, weil er einen natürlichen Stabilitätsschalter auslöste. BLK, eine weitere Kinase, wurde erst dann zerstört, als ein Enzymkomplex sie von der Zellmembran in das Zellinnere verlagerte. Und RIPK2 wurde abgebaut, nachdem der Inhibitor die Bildung von Proteinaggregaten auslöste, die die Zelle über ihre Recyclingwege entsorgte.

Diese Beispiele zeigen ein gemeinsames Prinzip: Inhibitoren können die körpereigenen Abbauprozesse „anschalten“, indem sie Proteine in Zustände versetzen, die das zelluläre Qualitätssicherungssystem dann zum Abbau markiert.

„Der durch Inhibitoren ausgelöste Proteinabbau ist kein Zufall, sondern Teil des pharmakologischen Spektrums dieser Substanzen“, erklärt Georg Winter, Life Science Direktor des AITHYRA-Instituts der ÖAW, Adjunct Principal Investigator am CeMM und Letztautor der Studie. „Dieses Wissen kann helfen, bessere Medikamente zu entwickeln – Wirkstoffe, die krankmachende Proteine nicht nur stumm schalten, sondern sie ganz aus der Zelle entfernen. Und in manchen Fällen liefert es eine Erklärung für bislang unerwartete Therapieeffekte.“

Auf einen Blick 

Die Studie „Inhibitors supercharge kinase turnover via native proteolytic circuits“ erschien in der Zeitschrift Nature
DOI: 10.1038/s41586-025-09763-9

Autor:innen: Natalie S. Scholes*, Martino Bertoni, Arnau Comajuncosa-Creus, Katharina Kladnik, Xuefei Guo, Fabian Frommelt, Matthias Hinterndorfer, Hlib Razumkov, Polina Prokofeva, Martin P. Schwalm, Florian Born, Sandra Roehm, Hana Imrichova, Brianda L. Santini, Eleonora Barone, Caroline Schätz, Miquel Muñoz i Ordoño, Severin Lechner, Andrea Rukavina, Iciar Serrano, Miriam Abele, Anna Koren, Stefan Kubicek, Stefan Knapp, Nathanael S. Gray, Giulio Superti-Furga, Bernhard Kuster, Yigong Shi, Patrick Aloy, Georg E. Winter# (*Erstautorin/#Korrespondenzautor)

Förderung: Diese Studie wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, dem Europäischen Forschungsrat (ERC), dem Wissenschaftsfonds FWF, dem Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), der Boehringer Ingelheim Stiftung sowie zahlreichen internationalen Partnerinstitutionen unterstützt.