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Neue Perspektiven für die Krebsforschung
ETH-Forschende gehen zusammen mit dem Universitätsspital Basel der Entstehung von Blasenkrebs auf die Spur. Ihre Erkenntnisse legen nahe, in der Krebsforschung mechanischen Gewebeveränderungen künftig mehr Beachtung zu schenken.
Eigentlich erforscht Dagmar Iber mit ihrer Gruppe im Labor und mit Computermodellen, wie sich aus Zellen und ihrer Erbinformation komplexe dreidimensionale Gewebe und Organe bilden. Krebsforschung hat die ETH-Professorin für rechnergestützte Biologie am Departement Biosysteme in Basel bis vor Kurzem nicht betrieben. Das änderte sich mit einem Aufruf des ETH-Rats, Forschungsgesuche einzureichen, in denen Grundlagenforschende zusammen mit Medizinerinnen und Medizinern neue Forschungsfragen zu Gesundheitsthemen bearbeiten.
Iber tat sich mit zwei Professoren des Universitätsspitals Basel zusammen, dem Urologen Cyrill Rentsch und dem Pathologen Lukas Bubendorf.
Gemeinsam wollten sie herausfinden, was die Richtung bestimmt, in die sich Harnblasentumore ausbreiten. Und tatsächlich wird die Zusammenarbeit der Entwicklungsbiologin mit den beiden Klinikern der Krebsforschung einen wichtigen Impuls verleihen können.
Tumorform ist entscheidend
Die Wachstumsrichtung von Blasentumoren ist relevant, weil sie einen Einfluss darauf haben kann, ob ein Tumor gut- oder bösartig ist. Auch hängt davon ab, welche Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen, und wie gut die Überlebensprognose der Patientinnen und Patienten ist.
Eine der häufigsten Formen des Blasenkrebses ist der sogenannte papilläre Tumor, der mit kleinen bäumchenartig verzweigten Strukturen von der Blasenwand in den Blaseninnenraum hineinwächst. Es ist eine verhältnismässig gutartige Tumorform, die Urolog:innen gut behandeln können, indem sie diese Tumoren in einem minimalinvasiven Eingriff von der Blasenwand abschaben.
Wächst ein Tumor hingegen nicht in den Blaseninnenraum hinein, sondern in die tieferen Schichten der Blasenwand, so sprechen Medizinerinnen und Mediziner von muskelinvasivem Blasenkrebs. Der Tumor erreicht in diesen Schichten auch Blut- und Lymphgefässe, was die Bildung von Metastasen begünstigt, die sich im Körper ausbreiten können. Die Prognose ist bei dieser Krebsform schlechter, und oft müssen die Ärzt:innen den Patienten die ganze Blase entfernen. Es ist bekannt, dass sich die beiden Krebsformen genetisch unterscheiden. Die Mechanismen, die das Wachstum eines Tumors in den Blaseninnenraum oder in tiefere Schichten der Blasenwand begünstigen, sind jedoch bisher nicht bekannt.
Zu der Person
Dagmar Iber ist Professorin für rechnergestützte Biologie am Departement Biosysteme und Präsidentin der Hochschulversammlung.
Hier kommt die Erfahrung der ETH-Forschenden ins Spiel: «Die bäumchenartigen Verästelungen der papillären Blasentumore erinnerten uns im weitesten Sinne an die Verästelungen der Lunge», sagt Iber. Deshalb wollte sie herausfinden, ob diese Strukturen durch ähnliche molekulare Mechanismen entstehen. Im Laufe des Forschungsprojekts stellte sich allerdings heraus, dass dies nicht der Fall ist: «Die molekularen Treiber bei der Bildung der Lunge und bei der Entstehung von Blasenkrebs sind völlig unterschiedlich», erklärt die ETH-Professorin Dagmar Iber.
Mechanik statt Biochemie
In der Lunge führt ein biochemischer Mechanismus zu den Verzweigungen. Beim Blasenkrebs hingegen scheinen nicht biochemische, sondern mechanische Faktoren das Wachstum zu beeinflussen. Diese Theorie stellen die Basler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Studie auf, die als sogenanntes Preprint veröffentlich ist.
Um die Theorie zu verstehen, muss man sich den Aufbau und die Funktion der Blasenwand vergegenwärtigen: Sie ist flexibel und ermöglicht durch ihre Faltung, dass sich die Blase je nach Urinmenge ausdehnen und zusammenziehen kann. Drei Gewebeschichten spielen dabei eine wichtige Rolle. Zusammen bilden sie zwiebelartig die innersten Schichten der Blasenwand: zunächst eine weiche Epithelschicht, dann eine deutlich steifere Membranschicht, die stützend wirkt, und schliesslich eine wiederum etwas weichere Bindegewebsschicht.
Nach der Theorie der Forschenden, die sich auf Messungen an Biopsien von Tumorpatientinnen und -patienten, an Gewebeproben aus Versuchen mit Mäusen und auf Computermodelle stützt, verändert sich bei Krebs die Steifigkeit der verschiedenen Schichten der Blasenwand relativ zueinander. Je nach Schwere der Veränderungen bilden sich unterschiedliche Krebsformen: Ändert sich die Steifigkeit der Schichten zueinander nur geringfügig, entstehen in der Blasenwand verhältnismässig grobe Vorwölbungen, die ins Blaseninnere hineinragen können. Sie bilden die Grundlage für papilläre Tumore, die sich an diesen Stellen entwickeln können.
Bei stärkeren Veränderungen der relativen Steifigkeit hingegen bleibt die Oberfläche der Blasenschleimhaut glatt, doch die zwischen Epithel und Bindegewebe liegende Membran bildet enge und feine Falten und Knitter. Dies könnte nach Ansicht der Forschenden Gewebeschäden verursachen, die das Einwachsen des bösartigen Tumors in diese Blasenwandschichten begünstigen.
Frühstadium untersucht
«Dass sich die Steifigkeit der Blasenwand bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Blasenkrebs generell verändert, haben Patholog:innen schon früher beschrieben», erklärt Franziska Lampart, Doktorandin in Ibers Gruppe. Neu ist, dass die Forschenden im Tiermodell das Frühstadium von Blasenkrebs untersucht haben. Zusammen mit der Gruppe von ETH-Professor Daniel Müller konnten sie mit Messungen am Rasterkraftmikroskop zeigen, dass die Membranschicht bereits in diesem frühen Stadium an einzelnen Stellen weicher wird. «Das passt zu unserer Idee, dass bereits bei der Krebsentstehung lokale relative Steifigkeitsveränderungen der einzelnen Blasenwandschichten eine wichtige Rolle spielen», so Lampart.
Diese Hinweise könnten der Krebsforschung neue Perspektiven eröffnen und sie in eine neue Richtung lenken. Denn ein Grossteil der Krebsforschung konzentriert sich darauf, das Wachstum von Krebszellen zu hemmen oder abzutöten. «Unsere Forschung zeigt einmal mehr, dass nicht nur das Zellwachstum relevant ist, sondern auch die Mechanik des Gewebes», sagt Iber. Zellen scheiden Proteinfasern und Enzyme aus, mit denen sie ihre unmittelbare Umgebung, die extrazelluläre Matrix, beeinflussen und verändern. «Wir sollten die Biomechanik und die Signalwege, welche sie beeinflussen, in der Krebsforschung stärker berücksichtigen. Derzeit steckt dieses Forschungsgebiet noch in den Kinderschuhen», stellt Iber fest.
Von diesem Krebsforschungsprojekt bleiben für Iber nicht nur die neuen Erkenntnisse und die angenehme und offene Zusammenarbeit mit den Klinikern des Universitätsspitals, sondern sie kann die Erfahrungen auch in ihrem angestammten Feld der Entwicklungsbiologie einsetzen. Denn auch dort könnten Steifigkeitsveränderungen eine Rolle spielen.