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«Bakteriophagen helfen gegen resistente Infektionen, aber in der Schweiz gibt es kaum Zugang zur Therapie»

Nicht nur Antibiotika können krankmachende Bakterien abtöten. Auch bestimmte Viren – sogenannte Bakteriophagen – können das. Um diese therapeutisch anzuwenden, fehlt in der Schweiz aber der rechtliche Rahmen. Was müsste sich ändern, damit mehr Kranke von der Therapie profitieren? Der Forscher Alexander Harms erklärt.

Bakteriophagen – oder kurz Phagen – sind Viren, die Bakterien befallen und abtöten können. Sie sind in unserer Umwelt und auch bei den Bakterien in unserem Darm und auf unserer Haut natürlicherweise milliardenfach präsent. Ärztinnen und Ärzte nutzen Phagen seit mehr als 100 Jahren gegen krankmachende Bakterien. Vor allem in Georgien war und ist die Therapie verbreitet. Nach der Entdeckung der Antibiotika geriet die Phagentherapie in der westlichen Welt in Vergessenheit. Vor etwa zehn Jahren wurden sie als Alternative wiederentdeckt, auch weil viele Krankheitserreger mittlerweile Resistenzen gegen Antibiotika gebildet haben und die Medikamente nicht mehr wirken.

ETH-News: Alexander Harms, wir stecken in einer Antibiotikaresistenz-Krise. Sind Phagen das Wundermittel, das uns daraus befreit?

Alexander Harms: Es ist auf jeden Fall so, dass die Phagen derzeit ein «Hype» sind. Das ist kein Wunder, wenn immer mehr Resistenzen gegen Antibiotika auftreten. Wir brauchen neue Wege, um bakterielle Infektionen zu behandeln. Als natürliche Gegenspieler der Bakterien haben die Phagen dabei grosses Potenzial. Sie haben sich während Jahrmillionen parallel zu den Bakterien entwickelt, kennen deren Tricks und können sich dagegen wehren. Der Vorteil der Phagen: Sie vermehren sich schneller als Bakterien. Wenn Bakterien Resistenzen gegen Phagen entwickeln, können sich diese schnell daran anpassen und die Resistenzen überwinden. Als Wundermittel würde ich Bakteriophagen trotzdem nicht bezeichnen.

Warum?

Phagen eignen sich bei akuten Infekten wie Blutvergiftungen weniger, hingegen bei chronischen Infekten. Und zwar aus Zeitgründen. Phagen wirken sehr spezifisch gegen bestimmte Bakterienstämme. Den passenden Phagen für eine Therapie zu finden kann jedoch aufwendig sein. Ärztinnen und Ärzte müssen mitunter weltweit bei diversen Universitäten und Spitälern anfragen, ob ein passender Kandidat in deren Phagensammlung vorhanden ist. Dazu sind jedes Mal Tests nötig. Das dauert mindestens zwei bis drei Tage, meist länger.

Bei chronischen Infektionen eilt die Zeit weniger?

Ja, das sind Infektionen, die schon länger bestehen und mit Antibiotika nicht mehr oder nicht vollständig behandelt werden können – etwa wegen Resistenzen. Hier sehe ich Phagen als sinnvolle Ergänzung zu Antibiotika. Typische Einsatzfelder für Phagen sind Infektionen der Lunge oder Harnwege, nach Knochenbrüchen oder bei chronischen Wunden.

Wie oft kommt die Phagentherapie heute zur Anwendung?

Aus den letzten zehn Jahren sind weltweit Anwendungen bei einigen hundert Patientinnen und Patienten dokumentiert. In der Schweiz waren es bisher knapp zehn Behandlungen an verschiedenen Universitätsspitälern. Es fehlt zwar an klinischen Studien, die heutigen Standards entsprechen. Aber aufgrund der bisherigen Erfahrungen kann man sagen, dass etwa drei Viertel der Behandlungen erfolgreich sind. Die bakteriellen Erreger werden zwar nicht immer gänzlich abgetötet, aber der Zustand der Patientinnen und Patienten verbessert sich deutlich. Manchmal rettet die Phagentherapie wirklich Leben, wenn sonst keine Hoffnung mehr besteht.

Warum wird die Phagentherapie nicht häufiger angewandt?

Einerseits, weil sie wie erwähnt aufwendig ist. Aber der wahrscheinlich noch wichtigere Grund: Es fehlt in den meisten Ländern an einem rechtlich klaren Rahmen für den Einsatz von Phagen in der Medizin. Phagen sind eine lebende Medizin, es sind Viren, die sich im Körper des Menschen vermehren. Das ist ein grosser Unterschied zu einem Antibiotikum in Tablettenform. Entsprechend lässt sich die gängige pharmazeutische Regulierung nicht einfach auf Phagen anwenden. Weil die Phagentherapie aufwendig ist und es am rechtlichen Rahmen fehlt, sind die grossen Pharmaunternehmen bisher nicht an einer kommerziellen Nutzung interessiert.

Wie ist die rechtliche Situation in der Schweiz?

Phagen sind in der Schweiz wie in vielen anderen europäischen Ländern nicht als Arzneimittel zugelassen. Patientinnen und Patienten haben deshalb kaum Zugang zu dieser Therapie. Phagen dürfen nur im Rahmen sogenannter individueller Heilversuche angewandt werden. Dazu müssen andere Behandlungen bereits ausgeschöpft sein. Eine Phagentherapie kommt ausserdem nur infrage, wenn ohne Behandlung schwerwiegende Folgen wie der Tod oder eine Amputation drohen.

Gibt es Länder, in denen ein geeigneter rechtlicher Rahmen besteht?

In Belgien können Ärztinnen und Ärzte Phagenpräparate über sogenannte magistrale Rezepturen direkt in der Apotheke anfertigen lassen – also beispielsweise in den Labors von Spitalapotheken. Dazu muss der entsprechende Phage im Arzneibuch gelistet sein, was in Belgien bereits für einige Phagen der Fall ist. So ist der Zugang zur Phagentherapie einfacher. In der Europäischen Union können die einzelnen Länder jetzt dieses belgische Modell übernehmen. Ich gehe davon aus, dass die Phagentherapie deshalb häufiger zum Einsatz kommen wird. Schon jetzt ist es so, dass Patientinnen und Patienten aus der Schweiz zum Teil ins Ausland reisen für eine Behandlung.

Was müsste sich aus Ihrer Sicht in der Schweiz ändern?

Als Erstes ist jetzt eine gesellschaftliche Debatte nötig, wie Schwerkranke Zugang zur Phagentherapie erhalten sollen. In einem vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Projekt arbeiten wir daran, eine externe SeitePlattform für den Dialog zwischen Fachpersonen und Bevölkerung zu schaffen. Dabei wollen wir auch die verschiedenen Optionen für eine rechtliche Regelung aufzeigen. Das belgische Modell ist dabei eine Möglichkeit. Eine andere ist zum Beispiel der australische Weg. Dort werden Einzelbehandlungen im Rahmen einer grossen, gemeinsamen klinischen Studie ermöglicht. Es bräuchte in der Schweiz einen klaren politischen Willen zu einem rechtlichen Rahmen, der zu den Besonderheiten der Phagentherapie und der Schweiz passt. Gleichzeitig muss die Frage der Finanzierung gelöst werden.

Was kostet denn eine Phagentherapie?

Das lässt sich kaum beziffern, zumal die Spitäler und Patientinnen und Patienten die Kosten bisher selbst tragen müssen. Klar ist: Derzeit ist eine Phagentherapie noch teurer als eine Antibiotikabehandlung, da der Prozess aufwendiger und weniger standardisiert ist. Gleichzeitig kann eine erfolgreiche Phagentherapie helfen, die hohen Kosten langjähriger, erfolgloser Standardtherapien zu verhindern. Und: Die Kosten einer Phagentherapie werden sicherlich sinken, wenn mehr Erfahrung vorhanden ist und Phagen noch besser erforscht sind.

Welche Rolle wird die Phagentherapie in Zukunft spielen?

Ich bin sicher, dass die Phagentherapie künftig häufiger eingesetzt wird. Der Druck seitens der Patientinnen und Patienten, die dafür nicht ins Ausland reisen wollen, wird zunehmen. Ich gehe nicht davon aus, dass es in der Schweiz eine sehr grosse Zahl von Behandlungen geben wird. Aber die Möglichkeit sollte vorhanden sein. Nicht jedes Spital muss Phagentherapie anbieten. Sinnvollerweise bilden sich an den Universitätsspitälern Zentren, die sich auf bestimmte Anwendungen spezialisieren und gemeinsam mit Forschenden aus der Mikrobiologie und anderen Fachrichtungen die Therapien umsetzen. Dank Fortschritten in der Wissenschaft wird die Behandlung noch wirksamer werden. Künstliche Intelligenz könnte in Zukunft helfen, den passenden Phagentyp schneller zu finden. Zudem wird daran geforscht, Phagen gentechnisch so zu verändern, dass sie etwa zusätzliche Giftstoffe gegen Bakterien produzieren oder Resistenzgene im Bakterium ausschalten können. So könnte die Phagentherapie noch wirksamer werden und noch mehr Kranken helfen.

Zur Person

Alexander Harms ist Professor für Molekulare Phagenbiologie an der ETH Zürich. Seine Gruppe forscht zu den Grundlagen der Phagentherapie: Wie verhalten sich Phagen im Körper? Und wie können sie wirksam genutzt werden?

Weitere Informationen

externe SeiteWissen zu Phagentherapie und Plattform zum Dialog (vom Schweizerischen Nationalfonds gefördertes Projekt)